Issing. In dem 700-Seelen-Dorf im Landkreis Landsberg am Lech wuchs der Bundestrainer auf. Zu Besuch an seiner Schule und seinem Sportplatz.
Am Eingang zur Grundschule Vilgertshofen wartet eine Gruppe Kinder auf ihre Eltern. „Sucht Ihr Julian Nagelsmann?“, will einer der Schüler wissen, als sich die Tür öffnet. „Kommen wir jetzt ins Fernsehen? Wir wollen ins Fernsehen“, sagt ein anderer. Noch ehe sich die Reporter als Journalisten zu erkennen geben, ahnen die Kinder bereits, warum die Gäste gekommen sind. Dabei ist es schon 30 Jahre her, dass der kleine Julian Nagelsmann hier in Issing eingeschult wurde. Heute ist der Junge aus dem Dorf im Landkreis Landsberg am Lech Bundestrainer der deutschen Fußball-Nationalmannschaft und Hoffnungsträger einer ganzen Nation im Achtelfinale der Heim-EM am Samstagabend in Dortmund gegen Dänemark (21 Uhr/ZDF).
Als die DFB-Auswahl vor zwei Wochen zum Auftaktspiel mit dem Bus von Herzogenaurach nach München fuhr, verfasste Nagelsmann eine WhatsApp-Nachricht an seinen Freund und Co-Trainer Benjamin Glück. Nagelsmann schrieb, „dass es schon irgendwie verrückt ist. Ich komme aus einem 700-Seelen-Dorf, er aus einem 1200-Einwohner-Dorf. Beide Orte haben mehr Kühe als Einwohner. Und jetzt haben wir das Eröffnungsspiel der Heim-EM in München. Das ist schon ein sehr besonderes Gefühl“, erzählte Nagelsmann am Tag vor dem 5:1-Auftakt gegen Schottland.
Das Dorf von Julian Nagelsmann: Eine Spurensuche
Wie aber sieht es wirklich aus in dem Dorf, in dem Nagelsmann die ersten Schritte in der Schule und auf dem Sportplatz machte? Tatsächlich grasen direkt zwei Kühe hinter dem Ortseingang von Issing, als sich die Reporter dieser Redaktion in dem Dorf des Bundestrainers aus Spurensuche begeben. Auf dem Weg zur Grundschule fährt man vorbei an einer Kirche, einer Metzgerei, einer Sparkasse, einer Schreinerei, einem Friseur, einer Autowerkstatt und einem Fahrradladen.
Diesen Weg fuhr Nagelsmann zuletzt vor zwei Jahren, als er seine frühere Schule besuchte. In seiner alten Sporthalle im ersten Stock saß Nagelsmann als Gast an einem Tisch und beantwortete die Fragen der 143 Schülerinnen und Schüler. Der heutige Nationaltrainer war zu diesem Zeitpunkt noch Chefcoach beim FC Bayern München und gerade zum ersten Mal Deutscher Meister geworden. Die Kinder wollten von ihm wissen, warum Robert Lewandowski nach Barcelona gewechselt ist, wie Thomas Müller in der Kabine sei oder welches Lied er am liebsten höre. Sie erfuhren, dass „Eule“ von Jan Delay ganz oben in seiner Playlist stehe, dass sein Lieblingsschulfach Biologie war, er mal bayerischer Meister im Schwimmen wurde und zum Baden als Kind am liebsten an den Ammersee fuhr.
Julian Nagelsmann besuchte seine alte Schule als Bayern-Trainer
Auch Bettina Hentschel war an diesem Vormittag dabei. Sie ist Bayern-Fan. Vor allem aber ist sie die Schulleiterin in Issing. Sie sitzt in ihrem Büro und erinnert sich noch gut an den Nagelsmann-Besuch. „Für die Kinder war das ein Highlight. Ich habe ihn als absolut freundlich, nahbar und authentisch erlebt“, sagt die Rektorin. „Er war den Kindern sehr zugewandt, ehrlich und hat die Kinder für ihre Fragen gelobt. Er sagte ihnen, dass sich die Journalisten davon noch eine Scheibe abschneiden können“, erzählt Hentschel und lacht, ehe sie noch einen kurzen Blick in die Sporthalle gewährt.
Viel hat sich hier nicht verändert in den vergangenen 30 Jahren. Auch deshalb kommt Nagelsmann so gern an diesen Ort zurück, mit dem er seine schönsten Erinnerungen verbindet.
Das wird auch deutlich am Sportplatz des FC Issing am anderen Ende des Gemeindeorts. Günther Fent steht dort am Spielfeldrand und spricht mit drei Männern, die sich um die Rasenpflege des Amateurvereins kümmern. Sie amüsieren sich über einen Reporter der London Times, der eine Woche zuvor hier zu Besuch war. „Wir haben versucht ihm zu erklären, was ein Maibaum ist“, sagt Fent und lacht. Er ist der Vorstand des FC Issing und kennt Nagelsmann schon seit vielen Jahren. „Der Stolz auf Julian ist riesig. Dass ein Junge hier aus Issing so eine Karriere macht, war für keinen hier vorstellbar“, sagt der 48-Jährige und geht über den frisch gemachten Rasen.
Hier am Sportplatz des FC Issing hat Nagelsmann mit dem Fußballspielen angefangen, als er zweieinhalb Jahre alt war. Ein idyllisch gelegenes Vereinsgelände direkt an einem privaten Waldstück. In der Ferne kann man vom Platz aus die Alpen erkennen. Das Klubheim liegt leicht erhöht, von dort aus hat man einen perfekten Panoramablick auf den Platz. Auf den Tischen liegen Hawaii-Blütenketten in Deutschland-Farben. Die Vereinsmitglieder treffen sich hier zum Public Viewing, wenn Nagelsmann und die DFB-Auswahl ihre EM-Spiele bestreiten.
Nagelsmann schoss in der Jugend 105 Tore in einer Saison für Issing
Neun Jahre lang trug Nagelsmann hier in der Jugend das Trikot des Vereins. In einer Saison gelangen ihm mal 105 Tore, ehe er vom FC Augsburg abgeworben wurde. Der Rest der Geschichte ist bekannt. Nagelsmann musste wegen eines Knorpelschadens im Sprunggelenk seine Karriere beenden, ehe sie überhaupt begonnen hatte. Stattdessen startete er früh seine Trainerkarriere und wurde 2016 bei 1899 Hoffenheim der jüngste Cheftrainer der Bundesligageschichte.
Was nur wenige wissen: Nagelsmann ist noch heute als Spieler beim FC Issing registriert. Er könnte jederzeit für seinen Heimatverein in der Kreisklasse auflaufen. In der Saison 2010/11 spielte Nagelsmann sogar regelmäßig für Issing, als er in der Jugend von Hoffenheim bereits als Trainer arbeitete. Nagelsmann konnte wegen des Jobs zwar nicht trainieren, kam aber so oft wie möglich zu den Partien. Als Spielmacher führte er Issing zum Aufstieg in die Kreisklasse. Beim entscheidenden Spiel gegen Jahn Landsberg spielte Nagelsmann von Beginn an. Issing gewann mit 4:3 und stieg auf. „Julian war eine Führungspersönlichkeit. Er hat die Spieler mit seinem positiven Ehrgeiz angetrieben“, erinnert sich Fent, der damals zusammen mit Nagelsmann in der Mannschaft spielte – und zusammen feierte.
Julian Nagelsmann ist noch immer für den FC Issing spielberechtigt
Auch bei der Issinger Meisterfeier war Nagelsmann mittendrin. Ein Mitspieler stellte seinen Traktor zur Verfügung, dann ging es mit einer Musikanlage auf einem Wagen durch den Ort, begleitet von Bierduschen wie beim FC Bayern München. „Beim Feiern hat sich Julian nicht zurückgehalten“, sagt Fent und grinst.
Besonders beeindruckt hat ihn aber immer die Persönlichkeit von Nagelsmann. Fent erzählt die Geschichte, wie er Nagelsmann mal um einen Gefallen bat, als dieser schon Trainer in München war. Der FC Issing wollte einem Jugendspieler, der unter einer Autoimmunkrankheit leidet, eine Freude machen und fragte Nagelsmann nach einem Trikot mit einer Unterschrift. „Julian hat gesagt: Ne, das machen wir anders. Ich fahre nach dem Bayern-Training raus, hole ihn von der Schule ab und fahre ihn nach Hause.“ Und so kam es dann auch. Nagelsmann holte den Jungen zehn Minuten vor dem Unterrichtsende in Issing ab, brachte ihn zu dessen Eltern und saß mit ihnen noch eine Stunde zusammen. „Das zeigt seine große menschliche Ader“, sagt Fent.
Im Kabinengang des FC Issing ist der Name Nagelsmann auch präsent, wenn er nicht da ist. Sechs eingerahmte Trikots von Nagelsmann hängen dort an der Wand. Als Spieler von Issing, Augsburg und 1860 München sowie als Trainer von Hoffenheim, RB Leipzig und den Bayern.
Nur das Trikot der deutschen Nationalmannschaft ist noch nicht dabei. Das soll sich aber bald ändern. Fent hofft, dass Nagelsmann nach der EM mal wieder in Issing vorbeischaut. Mit einem DFB-Trikot. Und im Optimalfall auch als Europameister. Dann würden die Verantwortlichen auch einen großen Plan weiter verfolgen: die Umbenennung des Stadions. „Das Julian-Nagelsmann-Stadion ist hier dann sicher ein Thema“, sagt Fent und hofft, dass dieser Plan mit einem deutschen Sieg gegen Dänemark ein weiteres Stück realistischer wird.