Essen. Das DFB-Team steht für den Zustand des Landes. Kann die EM dann überhaupt Spaß machen, wenn sie der Gesellschaft ähnelt? Eine Betrachtung.
Der Musikproduzent Jack White und die deutschen Nationalspieler haben ihre Fans unmittelbar vor der Weltmeisterschaft 1974 im eigenen Lande musikalisch wissen lassen: „Fußball ist unser Leben!“ Es ist zwar bis heute nicht geklärt, wie viele Menschen das damals tatsächlich beruhigte, unmittelbar bevor Deutschland erstmals Gastgeber des bedeutendsten Fußballturniers der Welt war. Aber die Kernbotschaft des Liedes war 20 Jahre nach dem ersten WM-Titel, dem Wunder von Bern, doch ziemlich vielversprechend und vertrauenserweckend: „Ja, einer für alle, alle für einen. / Wir halten fest zusammen, / und ist der Sieg dann unser, / sind Freud‘ und Ehr‘ für uns alle bestellt.“
Nun, 50 Jahre später und zum Start der Europameisterschaft an diesem Freitag in München, wird zum Glück auf die meist schrägen Gesangskünste des Fußballfachpersonals verzichtet. Wobei der Refrain von einst auch der aktuellen Nationalmannschaft von Bundestrainer Julian Nagelsmann (36) grundsätzlich erstrebenswerte Vorsätze liefert. Das DFB-Team startet gegen Schottland in das vierte Großturnier, das vollständig auf deutschem Boden austragen wird; von den Spielern wie von der EM werden Erfolg, Begeisterung und eine verbindende Kraft erwartet.
Symbolkraft des Fußballs – auch bei der EM 2024?
Der Fußball als Spiegelbild des Landes oder seiner Gesellschaft – den besten Spielern des Landes wird nicht gerade wenig Symbolkraft zugeschrieben. Weil ja auch tatsächlich etwas dran ist; was sogar jene zugeben müssen, die dem Spiel Elf gegen Elf nicht verfallen sind, sondern es vielleicht nur als langweilig und überbewertet empfinden. Vor allem die Welt-, aber auch die Europameisterschaften sind jenseits von Verzerrung und Übertreibung eng mit der Geschichte der Bundesrepublik verbunden. Wer die WM-Triumphe 1954, 1974, 1990 und 2014 oder die EM-Titel 1972, 1980 und 1996 erlebt hat, dem haben sich auch politische und wirtschaftliche Entwicklung zum jeweiligen Zeitpunkt eingebrannt.
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Der Fußball als Kitt der Gesellschaft. Denn er machte ja bereits so viel mit den Deutschen.
Rahn, Brehme, Götze: Siegtorschützen lassen Deutschland jubeln
Als Helmut Rahn 1954 im WM-Finale von Bern gegen die Ungarn aus dem Hintergrund schießen musste und damit Erfolg hatte, war man ja wieder wer. Deutschland erlebte seine Wiederauferstehung und hatte die Fesseln der Nazizeit abgelegt. Vor seinen Eigenschaften Fleiß, Widerstandsfähigkeit und Zielstrebigkeit musste erstmals seit langer Zeit niemand mehr Angst haben. 20 Jahre später dann in München der Endspielsieg über die Holländer – parallel zum sportlichen Erfolg schlugen die Deutschen sich den christdemokratischen Muff der Konrad-Adenauer-Jahre aus dem Mantelkragen, der Sozialdemokrat Willy Brandt stand für Aufbruch und Modernisierung, die das Land so dringend brauchte. Als Andreas Brehme 1990 gegen Argentinien vom Elfmeterpunkt den dritten WM-Titel sicherte, präsentierte das wiedervereinte Land seine ganze Stärke und Aufschwungswillen. Und 2014 in Rio? Rief ARD-Moderator Tom Bartels Mario Götze erfolgreich zu: „Mach ihn! Mach ihn! Er macht ihn!“ Deutschland war beim erneuten Sieg über Argentinien wirtschaftlich leistungsfähig, eine große Nummer in Europa, stand für Multikulti statt für Multikrise wie heute.
Im Juni 2024 richtet Deutschland zum zweiten Mal nach 1988 die Europameisterschaft aus, statt sieben Mannschaften wie damals reisen diesmal 23 Teams an. Genauso wie das Teilnehmerfeld angewachsen ist, haben auch die Erwartungen zugenommen. Was nicht aufs Abschneiden auf dem Rasen in den zehn Stadien begrenzt ist, denn der Fußball ist längst mit sportfremden Themen überfrachtet. Von einer politischen Verantwortung und Vorbildfunktion konnten sie sich nie freimachen, inzwischen aber scheint von den Spielern in der Öffentlichkeit mehr Haltung und political correctness denn Passgenauigkeit und Treffsicherheit verlangt zu werden. Überhaupt soll das ganze Turnier, das mit dem Slogan „United by Football – Verein im Herzen Europas“ überschrieben ist, seine integrative Wirkung zeigen, denn Wirtschafts- und Klimakrise, Rassismus-Debatten und AfD-Erstarken sowie Terrorangriffe auf offener Straße haben einen tiefen Riss in der Gesellschaft hinterlassen.
Der Fußball soll die Menschen auch 2024 wieder vereinen
Und der dem Gigantismus verfallene Fußball soll nun reparieren, wozu sonst niemand in diesem Land fähig zu sein scheint? Nämlich alle Menschen wieder zu vereinen, sie zu mäßigen, ein friedliches und tolerantes Miteinander herbeizuführen?
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Als Blaupause dazu dient das letzte große Turnier in Deutschland, das je nach Blickwinkel auf den Fußball als Sommermärchen oder als Illusion bezeichnet wird. Die WM 2006 war für viele Menschen ein Fest, ja: auch eine Befreiung. Eine unerzwungene und ansteckende Euphorie versetzte die Massen landesweit in einen Rausch: Mit jedem Erfolg der Mannschaft von Jürgen Klinsmann schwitzten immer mehr Menschen in der gleißenden Hitze auf den Fanmeilen, lernten aus der Ferne angereiste Fans ihre Gastgeber als freundlich und unbeschwert kennen. Die Straße des 17. Juni in Berlin als schwarz-rot-goldenes Fahnenmeer, Menschen jeglicher Herkunft, Hautfarbe und Religion waren für vier Wochen vereint. Oder wie es damals hieß: Die Welt zu Gast bei Freunden.
Leichtigkeit und Unbeschwertheit? Kaum zu spüren
Selbst wenn der Vorsatz da war, diese Weltoffenheit beizubehalten und ein neues Deutschland geschaffen zu haben, konnte dies natürlich nicht gelingen. Und weil 18 Jahre später von Leichtigkeit und Unbeschwertheit kaum etwas zu spüren ist, kann es in den nächsten Wochen auch keine Neuauflage des Sommermärchens geben. Wer sich das für die heute beginnende EM wünscht, erwartet zu viel. Denn in den Köpfen der Menschen ist gerade wenig Platz für Fußball, ihre Freude auf die EM ist noch äußerst zaghaft wahrzunehmen, im Supermarkt springen Kunden Fan-Utensilien nicht gerade in den Einkaufswagen.
Da ist der Krieg zwischen Israelis und Palästinensern in Gaza, der Antisemitismus bis nach Deutschland trägt. Da ist der Krieg in der Ukraine, die Angst vor weiteren Aggressionen Wladimir Putins. Da ist der beunruhigende Ausgang der Europawahlen am vergangenen Wochenende, bei dem rechte Parteien immer mehr Zuspruch erfahren haben. Auf bedrückende Weise ist dazu die Umfrage da, nach der sich jeder Fünfte mehr deutsche Nationalspieler mit weißer Hautfarbe wünscht. Was DFB-Kapitän Ilkay Gündogan (33) beinahe verzweifelt resümieren lässt: „Die Zahlen sind nicht überraschend. Das wird es wahrscheinlich auch noch die nächsten zehn Jahre geben. Vielleicht wird es besser – hoffentlich.“
Die EM als Spiegelbild der Gesellschaft
Da ist die höchste Terrorwarnstufe, die Nachrichten von Messerangriffen auf unbeteiligte Personen mehren sich. Da ist die Befürchtung, von Moralaposteln unter rechtsextremen Verdacht gestellt zu werden, nur weil man mit einer Fahne am Auto oder am Balkon seinen Patriotismus – völlig frei von Überheblichkeit und Überlegenheitsgefühl – zum Ausdruck bringen möchte. (Was 2006 übrigens auch für alle Nationen galt, weshalb sich in das schwarz-rot-goldene Fahnenmeer auch ganz viel Grün und Weiß und Rot und Blau mischte.) Da sind ganz allgemein Egoismus, ökonomische Ängste und soziale Verrohung.
Wie kann ein Turnier da noch Spaß machen, wenn der Fußball doch das Spiegelbild der Gesellschaft sein soll?
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DFB-Elf will mit Siegen für Freude und Abwechslung sorgen
Natürlich besteht die Aussicht, dass zwei Siege ganz schnell Hemmung und Verkrampfung bei den Fans lösen können, sich wenn auch in Light-Version ein Schland-Gefühl breitmacht. Die EM 2024 steht daher wirklich symbolisch für die Verunsicherung in der Gesellschaft, für eine Wundertüte: Wohin führt der Weg für das Land, wohin der Weg für das Nagelsmann-Team bei dem Heimturnier? DFB-Präsident Bernd Neuendorf (62) will die EM im gesellschaftlichen Kontext nicht zu hoch aufhängen, sagt aber: „Wir sind dazu da, Freude und Abwechslung zu bereiten.“ Und Thomas Müller (34), seit 2010 mit der Nationalmannschaft turniererprobt, wünscht sich so zu performen, „dass es auch den kritischeren Geistern leichter fällt, uns zu applaudieren und zu lächeln“.
Vielleicht klappt’s damit ja gegen die Schotten, lassen wir einfach die ersten 90 EM-Minuten heute Abend auf uns wirken. Oder in Anlehnung an den im Januar verstorbenen Kaiser Franz Beckenbauer: Geht’s raus und schaut’s Fußball! Ist ja nur ein Spiel.