Dortmund. In der Frühjahrshitze hat unser Laufblogger erstmals einen Wettkampf verloren - gegen sich selbst. Zum ersten Mal lief er ein Rennen nicht zu Ende.

Das war's! Erschöpft, leer und frustriert rupfe ich die mit kleinen, aber starken Magneten an meinem Shirt befestigte Startnummer ab. Über mein Gesicht rinnt Schweiß, es könnten aber auch Tränen sein, doch dafür will mein Körper jetzt keine Flüssigkeit verschwenden. 

Vor etwa einer Minute bin ich einfach stehen geblieben. Links von mir ruht der Kennader See, rechts von mir rennen die schnelleren Teilnehmer des Volkslaufs in Richtung Ziel. Über mir die Sonne, um mich herum 26 Grad im Schatten. Aber es gibt keinen Schatten. Und in mir nur Leere. 

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Schon auf der ersten Runde des Fünf-Kilometer-Kurses, den es zweimal zu durchlaufen galt, fühlte ich mich elend, schob es aber auf die Anstrengung. Ich wollte Bestzeit über zehn Kilometer laufen, irgendwas unter 50 Minuten, möglichst immer am Limit. Ich hatte viel getrunken und hatte dennoch Durst. Aber ich wollte nicht riskieren, während des Laufs einen Boxenstopp einschieben zu müssen. Also trank ich kurz vor dem Start nichts mehr. Ich fühlte mich eigentlich auch gut, fand es nur zu warm, weil ich es eigentlich immer zu warm finde, wenn mir die Sonne auf den Kopf scheint. Nach dem Startschuss sorgten dann noch langsame, nebeneinander walkende Mitläufer für das nötige Adrenalin. Ich lief in Schlangenlinien um sie herum und suchte mein Tempo.

Anfeuerung bringt Motivation

Als ich es gefunden hatte, war ich bereits etwa 2,5 km gelaufen. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass ich gut in der Zeit lag. Ich würde meine Bestzeit von 49:49 Minuten nicht pulverisieren, aber allemal schlagen. Meine Laufbekanntschaft Monika grüßte am Wendepunkt vom Streckenrand und feuerte mich an. "Klasse!", dachte ich und freute mich schon jetzt auf das nächste Mal. Denn dann würde ihr Anfeuerungsruf meine Tempoverschärfung auf den letzten zwei Kilometern einläuten.

Doch allmählich rächte sich, dass ich recht früh von Nasen- auf Mundatmung gewechselt war. Meine Kehle trocknete aus, ich bekam Durst. Ich rannte an meiner Familie vorbei weiter. Im Start-/Ziel-Bereich gab es Wasser, leider mit Kohlensäure. Ich schnappte mir zwei Becher, trank einen aus und kippte mir den anderen in den Nacken. Doch im selben Moment wusste ich, dass es hart werden würde. Denn wenn ich einmal angefangen habe zu trinken, brauche ich in der Regel sehr bald mehr. Vor meinem inneren Auge sah ich fünf wasserlose Kilometer bei sengender Sonne. Ich lief, kontrollierte die Zeit und sah, dass ich immer noch gut im Plan war. Ich musste einfach nur laufen.

"Einfach laufen" war beim Paris-Marathon mein Mantra, das mich ins Ziel brachte. Würde das hier auch funktionieren? Ich lief, dachte an Monika, die weiter vorne, an der Wendemarke, bestimmt darauf wartete, mich ein zweites Mal anzufeuern, und an meine Frau, die mit der Kamera im Anschlag im Zielbereich auf mich wartete.

Plötzlich blieb ich einfach stehen

Ich passierte die Sechs-Kilometermarke und freute mich, dass es nur noch vier, "läppische vier Kilometer!" ins Ziel sein würden. Und dann blieb ich einfach stehen.

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Noch dreieinhalb Kilometer bis zum Ziel, und ich stehe hier rum und kann nicht mehr laufen. Nein, ich will nicht mehr laufen. Ich könnte noch, die Beine sind in Ordnung. Aber der Kopf ist leer. Ich will einfach nicht mehr. Ich ziehe mein Vereinsshirt aus, schnalle den Pulsgurt ab, stoppe die Uhr, lösche den Lauf und spaziere am Rand der Laufstrecke zurück.

Der Strom der Läufer, die mir entgegen kommen, reißt gar nicht ab. Die meisten laufen langsam und sehen zufrieden aus. Angestrengt, aber zufrieden. Ich wäre auch gerne zufrieden und beginne zu grübeln, was mich beim Laufen zufrieden stellen würde. Eine neue persönliche Bestzeit? Neulich habe ich eine Halterung für meine Medaillensammlung an die Wand montiert. Voll. Da hängen lauter Medaillen, auf alle bin ich stolz, jede erzählt ihre eigene Geschichte, meine Geschichte. Auch heute wird es eine Geschichte zu erzählen geben, ich weiß bloß noch nicht, wie sie ausgeht. Am Ende der Geschichte gibt es keinen Jubel auf der Ziellinie, das steht fest.

Mehr und mehr Läufer ziehen an mir vorbei. Ich könnte jetzt umkehren und ganz gemütlich mit dem Strom zum Ziel traben. Ich habe aber keine Lust auf gemütlich. Das wird mir jetzt klar, und es erklärt einiges.

Zuviel Druck zerstört die Motivation

"DNF is no option", habe ich schon oft bei Marathons am Streckenrand gelesen. "Did not finish" gibt es nicht. Das dachte ich auch immer. Bis jetzt. Während ich Richtung Start-/Ziel-Bereich schlendere, überlege ich, warum mein Kopf heute so viel schwächer als meine Beine war. Ich bin deprimiert. Am liebsten würde ich sofort mein Läuferleben beenden. Mit jedem Schritt, den ich hier gemütlich gehe, bekomme ich mehr Lust, die Laufschuhe für immer an den Nagel zu hängen. Immer dieser Druck.

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Druck! So ein Unsinn. Woher kommt denn der Druck, wenn nicht aus mir selbst? Seit dem Paris-Marathon habe ich mir eigentlich keinen Moment echter Erholung gegönnt. Kaum war das Ziel "Marathon-Bestzeit" erreicht, schmiedete ich neue Pläne. Die Zeiten über zehn Kilometer und im Halbmarathon sollten verbessert werden. Möglichst sofort und möglichst krachend. Ich plante mein Laufjahr, um bloß nicht in ein Motivationsloch zu fallen. Die drei Halbmarathons des Revier-Cup, also Duisburg, Bochum und Dortmund, galten als gesetzt. Dann wollte ich beim Herz-Kreislauf in Essen die Zehner-Bestzeit angreifen. Aus verschiedenen Gründen schaffte ich es nicht, an dem Lauf teilzunehmen und verschob das Unternehmen um eine Woche auf den Lauf am Kemnader See.

In der Hitze zeigt sich nun, dass der Druck auf dem Kessel einfach zu stark war. Ich will nicht mehr. Ich beschließe, eine Pause zu machen. Vielleicht laufe ich einfach mal zwei Wochen lang gar nicht. Oder ich besinne mich der Ursprünge meiner Lauferei und trabe ziellos durch die Gegend. Ich stelle dann die Uhr so ein, dass sie nur die Entfernung und die Uhrzeit anzeigt. Oder nur die Uhrzeit. Oder mal ganz revolutionär: gar nichts. Wenn ich meine Pulsuhr einfach nur mitnehme, um keine Lücke in der Statistik zu haben, kann ich das Teil doch auch in der Tasche verstauen und einfach laufen. Da ist es wieder: Einfach laufen.

Krankenwagen kommt mit Martinshorn

Auf der anderen Seite der Strecke sehe ich, wie Sanitäter einen Läufer oder eine Läuferin behandeln. Später kommt ein Krankenwagen mit Martinshorn. Die Hitze fordert ihren Tribut, und ich frage mich, ob mein mentaler Aussetzer mich davor bewahrt hat, ebenfalls auf dem Asphalt liegen zu bleiben. Ich hoffe, dass der Läuferin oder dem Läufer nichts Schlimmes passiert ist. Allmählich bin ich überzeugt, dass es richtig war, stehen zu bleiben. Vielleicht ist der Ausstieg aus einem Rennen auch so etwas wie ein Sieg, wenn man merkt, dass es einfach nicht mehr geht.

Nachdem ich Sven Lorigs Buch "Lässig laufen" gelesen hatte, war ich ein bisschen böse, dieses Buch nicht selbst geschrieben zu haben. Da stehen so viele einfache Weisheiten drin. So einfach, dass man sie gerne verdrängt, wenn man seinen Sport irgendwie leistungsorientiert ausübt. In den vergangenen Monaten habe ich ständig auf irgendein Ziel hin trainiert. Ich habe mir Druck gemacht und dieser Druck tat oft sehr gut. Er hielt mich in der Spur und motivierte mich zum Laufen, wenn ich mal keine Lust hatte. Aber wie heißt es bei Handwerkern? Nach "fest" kommt "ab". Lässig laufen - Lorigs Pendant zu meinem Paris-Mantra, "einfach laufen".

Einfach laufen. Was mich in Paris ins Ziel gebracht hat, bringt mich jetzt vielleicht zurück in die Spur. Ich versuche es. Ich werde einfach laufen. Egal, wohin. Egal, wie lang.