Dortmund. Heute wird es philosophisch. Unser Laufblogger grübelt über das Sein und Bewusstsein von Hobbyläufern. Ist Freizeitsport nicht laufender Selbstbetrug?

Neulich beim Laufen - wann auch sonst? - schweiften meine Gedanken wieder einmal weit in die Ferne. Genauer gesagt: nach oben. Aus luftiger Höhe blickte ich auf mich herab, sah mich schwerbeinig über den Asphalt schlurfen und stellte mir die Frage aller Fragen: "Warum?"

Ein Wort, eine Frage, tausendundkeine Antworten. Und ganz viele Folgefragen. Warum laufe ich? Warum frage ich mich, warum ich laufe? Warum mache ich mir laufend Gedanken über das Laufen? Warum hat die Lauferei einen so großen Stellenwert in meinem Leben eingenommen?

Ich bin mir relativ sicher, dass kein Hobbyläufer, der auf meinem Niveau - also ganz, ganz unten - seinem Sport nachgeht, eine echte Antwort auf diese Frage hat. "Ich laufe, weil ich meine Gesundheit verbessern will", war vielleicht einmal die korrekte Antwort. Damals, ganz am Anfang, als die ersten zaghaften Schritte Erfolgserlebnisse und Gewichtsreduktion brachten. Als Freunde anerkennend fragten, ob man abgenommen habe. So war es jedenfalls bei mir.

Wir fühlen uns als echte Sportler

Aber spätestens mit dem Kauf des ersten Laufbuchs und allerspätestens mit der Teilnahme an der ersten Laufveranstaltung ist die Unschuld dahin. Plötzlich war ich nicht mehr jemand, der ab und zu laufen geht. Ich war Läufer. Sportler! Ein echter Sportler, der an echten Wettkämpfen teilnimmt und dafür trainiert.

Ist das nicht bloß eine Illusion? Ich glaube, wir Hobby-Läufer leben in einer Scheinwelt. Wir gaukeln uns vor, Volksläufe wären Wettkämpfe. Wir kaufen uns Schuhe und Outfits, die echte Sportler von ihren Sponsoren gestellt bekommen. Wenn wir die Leichtathletik-WM im Fernsehen sehen, glauben wir, wir könnten mitreden, wenn die 10.000-Meter- oder Marathon-Wettbewerbe laufen, weil wir ja beim Berlin-Marathon immerhin Platz 28.354 belegt haben. In Wahrheit findet der Wettkampf bei so einem Lauf doch ganz woanders statt, nämlich vorne. Doch wo ich bin, ist hinten. Oder hinteres Mittelfeld. Jedenfalls ist vorne sehr weit weg. Ich kann mich auch nicht erinnern, bei einem Lauf jemals gegen jemand anderen gelaufen zu sein. Ich laufe gegen mich. Das ist kein Wettkampf, sondern die Illusion eines solchen. Aber hört es sich nicht total wichtig an, zu sagen: "Am Wochenende habe ich einen Wettkampf"?

Wir bezahlen für eine Illusion

Die meisten Läufer, die an großen Läufen teilnehmen, betreiben ihren Sport auf einem Niveau, mit dem sie kein Verein der Welt jemals für einen ernstzunehmenden Wettkampf nominieren würde. Und trotzdem geben wir Geld für Leistungsdiagnostiken und Physiotherapeuten aus oder schrauben und optimieren an unserem Körper herum - bis zum Medikamentenmissbrauch. Für Typen wie uns haben die Veranstalter das Startgeld erfunden. Wir bezahlen dafür, dass wir uns der Illusion hingeben dürfen, wir hätten irgendetwas mit echten Läufern gemeinsam. Die Wahrheit ist: Die einzige Gemeinsamkeit ist der Asphalt, den wir uns mit den Profis teilen.

Wie vermutlich 99 Prozent meiner Mitläufer bei Laufveranstaltungen habe ich einen Vollzeitjob. Inklusive Pendelei füllt der Job ungefähr zehn bis zwölf Stunden meines Tages aus. Schön ist das nicht. In einer Marathon-Vorbereitung gönne ich mir trotzdem noch rund drei bis vier Stunden unter der Woche, die ich fürs Trainings aufwende. Hinzu kommt noch die Einheit am Samstag und natürlich der lange Lauf am Sonntag. Und wozu? Damit ich 42,195 km in einer Zeit unter vier Stunden laufen kann. Wenn ich also tatsächlich nach drei Stunden und 59 Minuten ins Ziel kommen sollte, habe ich aber immer noch fast zwei Stunden länger gebraucht als der Sieger. Das soll Wettkampf sein? Dafür trainiere ich? Und selbst ein Super-Hobby-Läufer, der weit unter vier Stunden oder gar an der Grenze zur Drei-Stunden-Marke läuft, wird nienienienienienie einen Marathon gewinnen, weil vorne immer irgendein Profi oder ein echter Leistungssportler rennt, der locker um die 2:30 Stunden läuft.

Läufer spinnen!

Und trotzdem spinnen wir den ganzen Tag von unserer Lauferei. Wir fachsimpeln über Trainingspläne, Fettverbrennung, Stoffwechselprozesse, Intervall-Training... Wenn ich Läufergesprächen lausche, fühle ich mich manchmal wie auf einem Kongress für Biologen, Sportmediziner und Ernährungswissenschaflter. Total überdreht. Ich muss aber auch ehrlich zugeben: Ich bin genauso. Auf Facebook bin ich Mitglied in vier Laufgruppen. Treffe ich irgendwo im echten Leben auf einen anderen Läufer, sind die Gesprächsthemen klar: unsere letzten Läufe, unsere schnellsten Läufe, unsere schönsten Läufe, unsere Ernährung, unser Training... Und sollte einmal kein Läufer zur Hand sein, kann ich auch Nichtläufern ungefragt einen Turnschuh ans Ohr labern und von meinen jüngsten Trainingseskapaden berichten.

Liebe Läufer, Hand aufs Herz: Seid ihr nicht auch auf der Arbeit schon mal etwas auffälliger als nötig gehumpelt und habt darauf gewartet, dass bitte gefälligst endlich jemand fragt, was ihr mit eurem Bein gemacht habt, damit ihr endlich, endlich vom gestrigen Intervall-Training berichten könnt? Weil unsere Arbeitskollegen oftmals mit der ausreichenden Würdigung unserer Heldentaten überfordert sind, freuen wir uns eben umso mehr, wenn wir auf Gleichgesinnte treffen.

Süchtig nach Konsum und Anerkennung

Wenn wir Läufer unter uns sind, bestärken wir uns gegenseitig in unserem Wahn. Zu Hause erzählen wir unseren Partnerinnen und Partnern von all den tollen Dingen, die wir unbedingt kaufen müssen und all den tollen Laufreisen, die wir dringend noch unternehmen müssen. Wir sind süchtig und wissen gar nicht, wonach. Nach dem Kick? Nach Konsum? Nach Lob und Anerkennung?

Der einzige Trost ist für mich der, dass ich offenbar nicht allein in meiner Scheinwelt lebe. Ich bin ja durchaus selbstreflektiert und frage mich daher, ob es noch normal ist, wenn ich so viel Zeit und so viele Gedanken an mein Hobby verschwende. Ist es vielleicht mehr als ein Hobby? Wie oft denken Hobby-Fotografen an neue Objektive? Wieviel Zeit verbringt ein Hobby-Musiker im Probenraum und auf der Bühne? Wieviel Raum darf ein Hobby im echten Leben beanspruchen? Oder ist ein Hobby nicht auch Teil des echten Lebens? Das sollte so sein, oder?

Ich glaube, ich beschließe jetzt einfach, dass es völlig normal ist, von einer Sache zu spinnen und zu schwärmen, die einem ganz offensichtlich gut tut. Ich liebe das Laufen. Wenn ich laufe, bin ich bei mir und draußen an der frischen Luft. Es ist ein sehr gesundes Hobby und eigentlich auch ein sehr sozialverträgliches. Wir Läufer tun keinem weh. Wir sind einfach nur bekloppt.