Gelsenkirchen. Früher, es ist vielleicht zwanzig Jahre her, gab es Witze wie diesen: Sitzen zwei Box-Manager im Auto, wer fährt? Die Polizei! Heute schützt die Polizei die Boxer auf dem Weg zum Ring. Ein Sittengemälde über die gesellschaftliche Entwicklung des Boxens in Deutschland.
Unten am Ring applaudierten damals Männer, die gefährlich aussahen und nussgroße Diamantensplitter auf ihren Krawatten trugen. Boxen war nicht nur im Ring ein raues Geschäft. Europameister Bubi Scholz erschoss seine Frau durch die Badezimmertür, Europameister Rene Weller landete wegen Hehlerei im Gefängnis, Weltmeister Graciano Rocchigiani wegen Körperverletzung.
Heute erscheint die Polizei beim Boxen lediglich noch, um den Stars freie Fahrt zum Ring zu verschaffen. Wladimir Klitschko ist Schwergewichts-Weltmeister und Doktor der Sportwissenschaft, zu seinem Titelkampf gegen Ruslan Chagaev kommen heute 60 000 Menschen in die Schalker Arena, und ganz vorne nimmt die B-Prominenz von Boris Becker bis Veronica Ferres Platz.
Profiboxen ist familientauglich geworden, der Fernsehsender RTL rechnet mit einer Zuschauerzahl im zweistelligen Millionenbereich, Klitschko macht Reklame für die Milchschnitte und scheffelt Geld. Die Box-Haudegen aus den 50er und 60er Jahren kommen da nicht mit.
Zwei Beispiele.
Heinz Neuhaus bügelte als Europameister im Schwergewicht seinen Gegnern mit Geraden und Haken die Falten glatt. Nach seiner Box-Karriere pachtete er eine Tankstelle in Dortmund.
Er ist selbst dann noch hart, wenn er weich wird
Erich Schöppner, deutscher Meister im Halbschwergewicht, war selbst dann noch hart, wenn er weich wurde. Die Zuschauer liebten ihn dafür und trugen ihn auf Schultern aus der Westfalenhalle. Schöppner leistete sich einen Mercedes 190 SEC als einzigen Luxus. Vom Boxen blieb kein Geld übrig, die Stadt Dortmund stellte ihn ein.
Die Zeit der Haudegen war die Zeit des Wiederaufbaus und des Wirtschaftswunders – und Boxen die Metapher dafür. Kämpfe und arbeite hart, dann kannst du alles schaffen.
Die Boxer galten als die Helden dieses Kampfes. Selbst als Mittelgewichts-Meister Peter Müller 1952 wütend den Ringrichter Max Pippow k.o. schlug, blieb „De Aap” Liebling der Fans. Er wurde gesperrt, wechselte ins Schlagerfach und sang: „Rädebumm, dä Jong dä fällt nit om”.
Aber die Werte wandelten sich, und mit ihnen das Ansehen des Boxens. Die Friedensbewegung und das Schlagen mit der Faust passten nicht zusammen. Den Tiefpunkt erreichten die Boxer 1988.
Graciano Rocchigiani besiegt in Düsseldorf Vincent Boulware und ist Weltmeister im Super-Mittelgewicht; erst der dritte deutsche Weltmeister nach Max Schmeling und Eckhard Dagge. Doch wen interessiert das? Nicht mal seinen Manager Wilfried Sauerland, der keine Party organisiert hat und lieber mit seiner Frau zum Mitternachts-Dinner im Hilton verschwindet.
„Rocky” fährt mit seinem Bruder Ralf im Auto zur Tankstelle neben der Philipshalle. Sie kaufen Dosen-Bier und feiern den WM-Titel im Auto.
Anfang der 90er Jahre dann der Aufschwung, der weniger mit Boxen als mit Vermarktung zu tun hat. RTL entdeckt Henry Maske – den Olympiasieger aus der abgewickelten DDR – für sich. Maske boxt sich nach oben, und in seinem sechsten WM-Kampf kippt das Boxen endgültig in Richtung Show. In der Tennis-Arena von Halle zelebriert RTL erstmals eine Lasershow beim Einmarsch.
Der Kampf? Iran Barkley ist ein Ex-Weltmeister, der nach einer Netzhautablösung kaum sieht. Sein Spitzname lautet „The Blade” – die Klinge. Aber er wirkt wie „die Klingel”. Würde er an die Tür klopfen, man würde ihn nicht hören, so schwach ist er. Barkley verliert. Das Publikum feiert Maske und sich selbst. Seitdem zählt bei Kämpfen in Deutschland nicht mehr allein die Leistung. Dabeisein ist oft mehr.
Die K.o.-Siege am Fließband
Nach diesem Prinzip funktionieren auch die Klitschko-Brüder Wladimir und Vitali. Beide sind die zurzeit besten Schwergewichtler der Welt. Doch fast schon ein wenig zu oft hatten sie es in ihren Karrieren mit Gegnern zu tun, die wirkten, als würden sie ihre Nase nur dazu benutzen, um den Klitschkos vielleicht die Faust zu brechen. Die Folge: K.o.-Siege für Vitali und Wladimir am Fließband.
Und natürlich geht es heute Abend auf Schalke auch um den Boxkampf. Aber es haben nicht 60 000 Menschen Karten gekauft, um Klitschko gegen Chagaev zu sehen. Die Karten sind seit Wochen verkauft, und damals hieß der Gegner noch David Haye, der verletzt ausfällt. Deshalb liegt der Schluss nah: Es geht auch um den Event, Dabeisein ist tatsächlich alles. Heute beim Boxen, das nächste Mal vielleicht beim Biathlon.