Essen. Am 28. Dezember findet wieder der Biathlon auf Schalke statt. Vanessa Hinz sorgte 2016 für den letzten deutschen Sieg. Ein Interview.
Vanessa Hinz hat Zeit mitgebracht als sie sich pünktlich zum verabredeten Videotermin einwählt. Dies und das habe sie zu tun, mehr nicht, keine Eile. Vorbei ist die Zeit, in der ihr Leben durchstrukturiert war von Training, Physiotherapie, Regeneration und Wettkampf. Im Februar hat die 31-Jährige aus Bayern nach einer von Verletzungen geprägten Zeit ihre Biathlon-Karriere beendet. Seitdem genießt die Einzel-Vizeweltmeisterin von 2020 die Welt jenseits des Spitzensports. Am Donnerstag, 28. Dezember, geht ihr Blick aber nach Gelsenkirchen – da steigt die World Team Challenge beim Biathlon auf Schalke. 2016 gelang Vanessa Hinz mit Simon Schempp dort der letzte deutsche Sieg.
Frau Hinz, wie geht es Ihnen so ohne den Biathlon-Zirkus?
Vanessa Hinz: Sehr gut, muss ich sagen. Klar, manchmal vermisst man ein bisschen die Regelmäßigkeit, die der Sport in den Alltag bringt. Aber ich trauere dem nicht nach. Wenn das so wäre, hätte ich auch was falsch gemacht oder zumindest aus den falschen Gründen aufgehört. Ich genieße mein Leben sehr und bin immer noch sehr glücklich mit der Entscheidung.
Wie sieht Ihr Leben aktuell aus?
Mein Freund und ich waren jetzt zwei Monate in Neuseeland. Das war cool, davon habe ich immer geträumt. Meine Schwester war nach dem Abitur in Neuseeland und Australien, das war für mich damals wegen des Sports nicht möglich. Eine passendere Zeit als jetzt gab es nicht.
Sie sind also nicht direkt in die nächste Karriere gestartet?
Nein, genau. Ich genieße gerade die Freiheiten, die ich jetzt habe. Einfach mal mit meiner Mutter und meiner Schwester drei Tage nach Wien zu fahren und auch mal eine Adventszeit mit Weihnachtsmarkt und allem zu erleben – das hatte ich die letzten 15 Jahre nicht, weil wir da immer im Weltcup unterwegs waren. Ich konnte mir durch den Sport ein paar Rücklagen schaffen, sodass ich mir diese Zeit jetzt erlauben kann. Wenn ich hier am Wochenende in einem kleinen Café arbeite, dann weil ich es gerne mache und nicht, weil ich es brauche, um aktuell über die Runden zu kommen. Natürlich habe ich durch den Sport nicht ausgesorgt, aber für diese Phase genügt es.
Arbeiten im Café statt jedes Wochenende Weltcuprennen
Werden Sie bei Ihrer Arbeit im Café erkannt? Schließlich waren Sie zu Ihrer aktiven Zeit fast jedes Winterwochenende im Fernsehen.
Ja, man merkt schon, wie die Leute einen anschauen und überlegen, warum ich ihnen bekannt vorkomme. (lacht) Manche trauen sich dann auch und fragen nach meinem Namen, oder ob ich nicht mal Wintersport gemacht habe. Da macht es dann bei den meisten klick und man kommt ins Gespräch. Es rechnet ja auch keiner damit, mich in so einem Umfeld anzutreffen. Der normale Weg nach der Karriere sind ja Sponsorentermine, TV-Auftritte – aber genau auf sowas hatte ich noch keine Lust. Ich wollte nicht direkt wieder einen strikten Alltag haben.
Was für ein Café ist das, in dem Sie arbeiten?
Das ist so ein ganz kleiner, familiärer Rahmen, ein Ort, an dem die Menschen hier zusammenkommen und für mich ist es ganz toll, Berchtesgaden etwas zurückgeben zu können. Das ist eine Herzensangelegenheit für mich und macht mir großen Spaß.
Das klingt als seien Sie sehr im Reinen mit Ihrer Entscheidung.
Ja, ich hatte noch nicht eine Sekunde des Zweifelns, ich warte da ehrlicherweise immer noch ein bisschen drauf, dass das kommt. Man denkt ja auch darüber nach, was so in Zukunft kommt, und spürt den gesellschaftlichen Druck, dass erwartet wird, dass man jetzt was anderes macht.
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Haben Sie schon konkrete Pläne?
Nein, gar nicht. Das ist bei mir immer so gewesen. Ich habe damals über Nacht entschieden, dass ich Biathlon mache. So ungefähr war es auch, als ich die Entscheidung zum Aufhören getroffen habe. Ich habe das Glück, dass ich mir diesen Freiraum gerade leisten kann, aber ich bin auch ein Typ, der dann wieder was machen möchte. Ich versuche jetzt in verschiedene Bereiche reinzuschnuppern und herauszufinden, wer ich ohne Sport bin – er hat immerhin über die Hälfte meines Lebens geprägt.
Keine Neuner, Dahlmeier oder Herrmann-Wick
Wie blicken Sie denn dann auf Ihre Nachfolgerinnen? Sind Sie noch voll im Thema?
Außer Franzi Preuß ist ja keine mehr aus meiner Zeit dabei, zu den Jüngeren hatte man nicht so den engen Draht. Man ist als Aktive voll in einer Blase, alles dreht sich die ganze Zeit um Biathlon. Da bin ich jetzt komplett raus, alles, was intern wichtig ist – das kriege ich gar nicht mehr mit. Und ganz ehrlich: Ich sitze auch jetzt selten mittags zu Hause und schaue Biathlon im Fernsehen. Natürlich verfolge ich die Ergebnisse, aber es ist nicht mehr wie früher, dass ich alle Schießergebnisse und Laufzeiten kenne. Ich merke jetzt erst, dass es einen ganz, ganz großen Teil neben dem Sport gibt.
Merkt man schon als Aktive, dass man in einer Blase steckt?
Teilweise, ja. Gerade wenn man der während der Weihnachtszeit mal kurz entflieht. Da denkt man schon: Okay, die Welt draußen dreht sich auch ohne Biathlon weiter. Wenn ich vor Wettkämpfen nervös war, habe ich mich auch oft mit dem Gedanken runtergeholt: Für 99 Prozent der Welt ist heute ein ganz normaler Sonntag, also mach es nicht komplizierter als es ist.
Hatten Sie schon Gelegenheit, auf Ihre Karriere zurückzuschauen?
Ich habe eigentlich schon immer sehr reflektiert zurückgeschaut. Ich habe mich oft unter Wert verkauft, aber mittlerweile weiß ich: Ja, ich habe keinen großen Einzeltitel gewonnen, ich war keine Magdalena Neuner, Laura Dahlmeier oder Denise Herrmann-Wick, aber ich war fester Bestandteil des deutschen Teams und ohne mich hätte es auch die Erfolge mit der Staffel nicht gegeben. Das musste ich lernen zu erkennen: dass ich auch was erreicht habe. Das ist nicht so einfach, weil in Deutschland ja häufig nur auf die mega erfolgreichen Sportler geschaut wird. Es gab eine Zeit, da wurde eigentlich immer nur Gold erwartet, da geht so eine wie ich dann schonmal unter.
Jetzt stellen Sie Ihr Licht aber nicht unter den Scheffel. Immerhin steht in Ihrer Vita neben Medaillen bei EM, WM und Olympia auch der Sieg beim Biathlon auf Schalke. Ein Prestigesieg. Was für Erinnerungen haben Sie an das Event?
Bei meiner ersten Teilnahme bin ich sehr spontan eingesprungen. Da war ich schon etwas unsicher, ob ich bereit dafür bin, das ist schon etwas sehr Spezielles: so viele Zuschauer, eine sehr anstrengende Strecke und der Fokus liegt voll auf den deutschen Teams. Aber natürlich habe ich zugesagt: Was hatte ich schon zu verlieren? Es gibt keine Weltcup-Punkte, aber man kann sich ein unfassbar gutes Gefühl holen.
Biathlon auf Schalke: Gänsehaut, Glitzer, Momente für die Ewigkeit
Erzählen Sie.
Es ist einfach Gänsehaut pur. Die Lautstärke, dieser Hexenkessel – in so einer Intensität kennt man das aus dem Weltcup einfach nicht. Hinterher die Feier im Blauen Salon, das ist schon alles eine riesige Party. Und als Athletin ist es ein bisschen verrückt: Du bist auf dem Videowürfel und alle reagieren auf dich. Du hebst die Hand und alle winken zurück. Ich habe natürlich versucht, das alles aufzusaugen. Das sind Momente, die kannst du dir nicht kaufen, die bleiben für die Ewigkeit, und ja, von denen zehrt man danach noch.
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Wie wird dieser Wettbewerb denn unter den Athleten bewertet?
Er gilt schon als ein guter Wettkampf. Und man muss da ehrlich sein: Er ist auch gut bezahlt. Topstars wie Ole Einar Björndalen unterbrechen ja nicht einfach so Weihnachten mit der Familie. Da brauchen wir gar nicht um den heißen Brei herumreden. Aber es ist auch ein cooles Event, top organisiert – würde das nicht stimmen, würden die Großen auch fernbleiben. Alle, die antreten, nehmen die Rennen voll ernst – einen besseren Trainingswettkampf kannst du nicht haben. Da geht im Athletenlager schon vorher die Frage rum: Und, kommst du auch zum Biathlon auf Schalke?
Auch ohne die Möglichkeiten vor der Haustür ist Wintersport im Ruhrgebiet extrem beliebt – wie ordnen Sie es ein, dass Biathlon auch mal in so eine Region geholt wird?
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Das ist schon sehr schön. Ich finde es toll, wie krass sich die Leute dafür begeistern können. Ich werde nie den Moment vergessen, als ich als Erste in dieses Stadion eingelaufen bin – was da los war, diese Lautstärke! Da dachte ich mir: Okay, in der nächsten Runde muss ich unbedingt wieder die Erste sein, die reinkommt. Ich hatte das Glück, dass ich dann quasi alleine reinkam. Da wusste ich: Wenn ich den nächsten Schritt mache, die mich sehen, dann jubeln die nur für mich. Das ist unbeschreiblich. Auf der anderen Seite, jenseits der Emotion, sehe ich so eine Veranstaltung natürlich auch ein wenig kritisch. Unter dem Nachhaltigkeitsaspekt muss man sich ja schon fragen: Muss das heutzutage noch sein?
Nachhaltigkeit im Auge behalten – auch beim Biathlon auf Schalke
Ein Thema, das den Wintersport generell umtreibt.
Ja, und wir reisen ja so schon immer sehr viel in einer Saison – da kommt so eine Spaßveranstaltung natürlich noch oben drauf. Aber da kann man vielleicht auch den ganzen Wintersport mal ein bisschen hinterfragen und schauen, was zukünftig noch vertretbar ist. Aber von Schalke bekommt man ja zumindest mit, dass der Schnee danach noch weiterverwertet wird, das ist ein gutes Zeichen. Aber man muss diese Seite einfach im Auge behalten, weil darum eine große und wichtige Diskussion entstanden ist.
Werden Sie sich den Biathlon auf Schalke in diesem Jahr anschauen?
Wenn ich da daheim bin, denke ich schon, dass ich einschalten werde. Mit den kurzen Runden ist einfach spannend und macht Spaß zu gucken. Aber es ist jetzt nicht wie früher bei meiner Oma, die sich mit dem Mittagessen nach meinen Wettkampfzeiten gerichtet hat.
Ihr Sieg 2016 mit Simon Schempp war der letzte deutsche Sieg in Gelsenkirchen. Nehmen Sie uns nochmal mit: Wie fühlt es sich an, in dieser Atmosphäre zu gewinnen?
Das war einfach mega cool. Wenn man mit dem Kutscher eine Ehrenrunde dreht, und alle jubeln nur dir zu, Wahnsinn. Ich weiß noch, wie damals in meinen Waffenkoffer Glitzer von den Konfettikanonen gefallen ist. Ich habe mich dann jedes Mal gefreut, wenn ich im Laufe der Saison wieder ein paar Reste von dem Glitzer gefunden habe. Dann waren sofort die Erinnerungen wieder da. Das ist so eine ganz besondere Verbundenheit. Selbst eine WM- oder EM-Medaille wird nicht so intensiv gefeiert, weil ja meist am nächsten Tag schon wieder Rennen anstehen. Auch wenn dieser Sieg vielleicht nirgendwo bei Wikipedia steht, ist er doch ein ganz spezieller – weil man ihn einfach genießen kann. Es ist ein Sieg fürs Herz, der in Erinnerung bleibt.