Herzogenaurach. Im zentralen Mittelfeld hat Bundestrainer Hansi Flick ein Überangebot - ein kompliziertes Puzzle. Die Frage: Wer darf auf den Platz?

Leon Goretzka muss erst einmal um seinen Platz kämpfen: Der 27-Jährige ist während des Warmmachens einmal kurz abgebogen, im Kabinentrakt des Adi-Dassler-Stadions von Herzogenaurach verschwunden, um dort ein menschliches Bedürfnis zu befriedigen, das auch Nationalspieler nicht verschont. Als er nun zurück auf den Rasen kommt, haben sich die Kollegen im Kreis aufgestellt, um Dehnübungen zu machen. Für Goretzka haben sie keinen Platz gelassen, er muss sich zwischen Serge Gnabry und Niklas Süle drängen.

Deutschland trifft am Samstag auf Europameister Italien

Der Kampf um die besten Plätze in der Nationalmannschaft ist eingeläutet, und es geht um mehr als bloß eine Position beim gemeinsamen Dehnen: Es geht um die Startelf für die Nations-League-Spiele der kommenden Wochen, beginnend mit dem Duell gegen Europameister Italien am Samstag (20.45/RTL). Und vor allem geht es um die Plätze im Aufgebot für die Winter-Weltmeisterschaft in Katar.

Sollte er sich nicht noch verletzen oder entführt werden, wird Goretzka im November natürlich mitreisen nach Katar. Aber dabei sein ist längst nicht mehr alles für einen wie ihn, der Bayern-Profi will spielen. „Ich bin immer enttäuscht, wenn ich nicht auf dem Platz stehe, egal warum“, sagt er. „Ich bin Fußballer, ich möchte in der Startelf stehen.“

Das aber wollen viele, gerade im zentralen Mittelfeld. In dem Bereich also, der im modernen Fußball gleichzeitig Maschinenraum und Schaltzentrale ist. Hier wird das gegnerische Spiel zerstört und das eigene entzogen, hier entscheidet sich, wer die Kontrolle hat, deswegen ist es hier besonders wichtig, mit der Aufstellung richtig zu liegen. Und das ist seit Jahren kompliziert, weil die deutsche Mannschaft hier traditionell ein Überangebot an herausragenden Fußballern hat. Toni Kroos ist zwar zurückgetreten, aber es gibt neben Goretzka ja noch Joshua Kimmich und Ilkay Gündogan. Und Jamal Musiala, der eigentlich Flügelspieler ist, zuletzt gegen die Niederlande (1:1) und auch im Familien-Trainingslager in Marbella aber auf der Sechs agierte. Sehr viel Klasse für nur zwei freie Positionen.

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Goretzka hat den großen Vorteil, dass er Flick und dessen Vorstellungen vom Fußball gut kennt: Anderthalb Jahre arbeiteten sie beim FC Bayern zusammen, gemeinsam gewannen sie 2020 die Champions League, weil das Mittelfeldduo Goretzka/Kimmich alle die Gegner regelrecht erdrückte. Trotzdem sei das Bayern-Paar in der Nationalmannschaft keinesfalls „von Haus aus gesetzt“ sagt Flick. Kein Problem, findet Goretzka: „Unsere ganze Mannschaft ist qualitativ so gut besetzt, dass es vom Trainer doch fatal wäre, jemandem eine Startelfgarantie zu geben“, sagt der Mittelfeld-Mann. „Diese Handschellen würde ich mir als Trainer auch nicht anlegen.“

Der frühere Schalker hat gute Argumente mit seiner Mischung aus Wucht, Technik, Spielverständnis und Torgefahr. Aber Kimmich ist der noch giftigere Abräumer und kann herrliche Steilpässe im Spielaufbau einbringen. Gündogan ist ein außergewöhnlicher Ballflüsterer und kann mit seinen kleinen, schnellen Bewegungen ganz neue Spielsituationen kreieren. Und Musiala versteht es auf erstaunliche Weise, seine dünnen Beinchen sehr oft in den Weg der gegnerischen Pässe zu stellen und sich mit dem Ball auch aus größter Bedrängnis zu befreien.

So bringt jeder seine ganz eigenen Stärken ein – und die richtige Aufstellung wird zum komplizierten Puzzle für Bundestrainer Flick. Sein Vorgänger Joachim Löw hatte das zuletzt nicht mehr richtig zusammengesetzt bekommen. Er wollte Kroos unbedingt spielen lassen, er wollte aber auch auf Gündogan, Kimmich und Goretzka nicht verzichten Und so schob er die Spieler so lange auf dem Platz hin und her, bis für jeden ein Platz gefunden war, auf dem aber keiner so richtig glücklich wurde. Die Puzzleteile waren mit Gewalt ineinander gedrückt, ob sie passten oder nicht – entsprechend sah das Ergebnis dann auch aus.

Bundestrainer Flick sieht Joshua Kimmich auf der Sechs

Solche Kompromisse will Flick nicht machen, das hat er schon klar erkennen lassen: „Ich sehe Jo Kimmich auf der Sechs. Das wird bei uns so sein. Ich sehe ihn bei uns nicht auf der Außenverteidigerposition.“ Theoretisch ließe sich ein Ilkay Gündogan auch weiter nach vorne schieben, aber da hat man ja Thomas Müller, Kai Havertz, Marco Reus und noch so einige mehr. Das Problem wäre verlagert, nicht gelöst.

Also wird gekämpft um die Plätze, und das nicht nur beim Warmmachen. Als die Journalisten schon nicht mehr zusehen durften, schepperte es ordentlich in einem Zweikampf zwischen Kimmich und Goretzka – was der später sehr vergnügt erzählte: „Das war extrem intensiv und ging richtig rund“, sagte er. „Das will Hansi auch sehen, dass wir uns im Training gegenseitig pushen. Denn die Konkurrenzsituation im Training macht uns alle besser und wird uns schneller dahin führen, wo wir hinwollen.“ Idealerweise ins Lusail-Stadion, wo am 18. Dezember das WM-Finale gespielt wird.

Die erste Etappe auf dem Weg dahin liegt am Samstag in Bologna. Gegen den Europameister Italien wird der Maschinenraum im Mittelfeld maximal gefordert sein – und Flick kann wertvolle Hinweise sammeln, wie sich seine Puzzleteile am besten ineinander fügen.