Peking. Die umstrittenen Olympischen Winterspiele in Peking sind beendet. Im Exklusiv-Interview zieht IOC-Präsident Thomas Bach Bilanz.
Das Gespräch über die umstrittensten Spiele der jüngeren Olympiageschichte steigt in der 16. Etage des Intercontinental-Hotels Beijing Beichen. Thomas Bachs Eckbüro hat zwei durch einen eingemauerten Kamin getrennte Fensterfassaden. Der Blick geht auf der einen Seite raus auf das Parkgelände Olympic Green mit dem Fluss Yangshan inmitten. Auf der anderen Seite nimmt der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees bei seinem einzigen Zeitungsinterview während der 24. Winterspiele an einem Konferenztisch mit Plastikscheiben als Coronaschutz Platz, im Hintergrund ist das Vogelnest-Stadion zu sehen. Der 68-Jährige zieht Bilanz – und blickt nach vorn.
Herr Bach, mit welchen Gedanken verlassen Sie China?
Thomas Bach: Mit sehr positiven, weil wir von den Athleten sehr viele positive Rückmeldungen bekommen haben. Sie sind glücklich und dankbar, dass diese Spiele stattgefunden haben, dass sie ihren olympischen Traum leben konnten. Alle haben die Wettkampfstätten und das olympische Dorf gelobt. Sie fanden beste Bedingungen vor. Das sind die beiden Faktoren, an denen sich der Erfolg Olympischer Spiele bemisst.
Mischt sich darunter auch mal ein flaues Gefühl, ja: Scham, weil man weiß, die Peking-Spiele sind umstritten?
Bach: Nein. Wir konzentrieren uns auf unsere Verantwortung, Die liegt darin, die Spiele nach den Regeln der olympischen Charta, die die Menschenrechte beinhaltet, und des Gastgebervertrages stattfinden zu lassen. Dies war alles gegeben. Schauen Sie auf sich und Ihre Kollegen: Alle Medien haben mit der vom IOC erteilten Akkreditierung Visa bekommen, der Zugang zum Internet war an den olympischen Stätten gesichert. Hier sind die Bedingungen eingehalten worden.
Auch in anderen Bereichen?
Bach: Die Einordnung der Spiele im politischen Kontext liegt in der Verantwortung der Politik. Wir respektieren Einschätzungen aus allen Richtungen.
Ein Vorwurf lautet, Sie hätten sich vom chinesischen Regime benutzen lassen für dessen Propagandaspiele. Prallt solche Kritik an Ihnen ab?
Bach: Wir wissen, dass bei den Spielen und deren Vergabe der Blick der Weltöffentlichkeit nicht nur auf das Sportgeschehen gerichtet ist, sondern auch auf das politische und soziale Umfeld. Die Spiele mit ihrer weltweiten Aufmerksamkeit werden genutzt, um auch andere Themen in den Vordergrund zu rücken, die mit ihnen nicht in unmittelbarem Zusammenhang stehen.
Wie groß ist Ihr Einfluss auf Gastgebernationen?
Bach: Das IOC ist keine Weltregierung. Wir können nicht Probleme lösen, an denen Generationen von Politikern gescheitert sind. Die Weltsicht auf China war vor sieben Jahren eine vollkommen andere als heute. Wenn wir uns in das weltpolitische Spannungsfeld begeben, werden die Spiele darin zerrieben. Das ist auch nicht unsere Aufgabe: Wir haben weder das Mandat noch die Macht, hier in politische Dispute einzugreifen und Stellung zu beziehen. Täten wir das, würden wir die Spiele gefährden.
Sie sitzen an den wichtigsten Schalthebeln der Sportwelt, treffen Staats-Chefs. Wie können wir uns Unterredungen mit Xi Jinping und Wladimir Putin vorstellen? Endet da die Macht?
Bach: In diesen Gesprächen werden alle Themen besprochen, die die Aufgaben des IOC und die Olympischen Spiele betreffen.
Geht es auch darüber hinaus, was vor beziehungsweise nach den Spielen in dem jeweiligen Land geschieht?
Bach: Der IOC-Präsident ist weder ein Staats- noch ein Regierungs-Chef. Privat habe ich selbstverständlich meine politische Meinung wie jeder andere auch. Aber wenn Sie eine Organisation vertreten, müssen Sie verantwortlich handeln. Und beim IOC schreibt die Charta aus gutem Grund politische Neutralität vor. Nur durch diese Neutralität ist der Bestand der Spiele gesichert. Das haben schon die alten Griechen vor mehr als 3000 Jahren gewusst, die deswegen den olympischen Waffenstillstand ausgerufen haben.
Was Russland womöglich nicht davon abhalten wird, in die Ukraine einzumarschieren.
Bach: Der olympische Waffenstillstand zeigt, dass die Welt die Mission der Spiele und die Spiele unterstützt. Wir haben eine im Konsens verabschiedete UN-Resolution zu diesen Spielen, die gerade die Rolle des IOC hervorhebt und die Regierungen auffordert, mit dem Olympischen und Paralympischen Komitee zusammenzuarbeiten. Wir hatten auf meine Einladung hin den Generalsekretär und den Präsidenten der Vollversammlung der Vereinten Nationen hier zu Gast. Ich glaube, deutlicher kann die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft nicht sein. Und jetzt rede ich noch nicht einmal von weiteren unterstützenden Botschaften, sogar von Papst Franziskus.
Politisch neutral waren die Peking-Spiele schon nicht mehr, als die uigurische Langläuferin Dinigeer Yilamujiang das Olympische Feuer entzündet hatte.
Bach: Warum sollte China eine Athletin diskriminieren, nur weil sie aus einer bestimmten Region kommt?
Weil in dieser Region die muslimische Minderheit unterdrückt und gefoltert wird. Politischer geht es doch nicht.
Bach: Es gibt bei Olympischen Spielen keine Diskriminierung. Dinigeer Yilamujiang ist bei diesen Olympischen Winterspielen im Skilanglauf angetreten. Und das ist die Botschaft, die wir an das Gastgeberland und darüber hinaus senden. Bei den Spielen sind alle gleich.
Aber hier sind wir genau bei besagter Propaganda. Sie ist eine Uigurin und keine Sportlerin mit einem großen Bekanntheitsgrad oder sportlichen Meriten.
Bach: Das Konzept zur Entzündung des Olympischen Feuers ist von Spielen zu Spielen unterschiedlich. Hier in Peking war es eine Stafette der Generationen, mit jungen Athleten am Ende. Es können auch Sportler sein, die sich anderweitig engagieren. Dies zeigt: Bei den Spielen sind alle gleich.
Was denken Sie dann als Privatmann, nicht als IOC-Präsident, wenn Sie Berichte von Menschenrechtsorganisationen über Missstände in China lesen?
Bach: Ich habe meine eigene Meinung, aber wenn ich mich äußere, wird jede meiner Äußerungen als die Aussage des IOC-Präsidenten interpretiert. Ich habe die Verantwortung für meine Organisation, für die Athleten aus allen 206 Nationalen Olympischen Komitees wahrzunehmen. Die Sportler können sich nur an den Spielen erfreuen, wenn sie stattfinden können, weil wir die politische Neutralität der Spiele wahren. Wenn wir nur noch in die Länder gehen würden, deren Regierungen in allem übereinstimmen, hätten wir keine Olympischen Spiele mehr, weil es nur noch zehn oder 15 Teilnehmerländer gäbe. Es wird von der internationalen Gemeinschaft anerkannt, dass die Olympischen Spiele das einzige Event sind, dem es gelingt, die Menschen aus der ganzen Welt in einem friedlichen Wettstreit zusammenzubringen. Und dafür sind die Spiele da – nicht um zu spalten und in Gut und Böse zu sortieren nach einer Vielzahl von Kriterien, die – auch das muss gesagt werden – in verschiedenen Kulturkreisen und politischen Systemen durchaus unterschiedlich bewertet werden.
Das klingt alles sehr nach einer olympischen Parallelwelt.
Bach: Nein, aber die olympische Welt zeigt innerhalb einer sehr realen und gespaltenen Welt Alternativen auf. Das wird oft verwechselt: Wenn wir auf die politische Neutralität verweisen, heißt das nicht, dass wir unpolitisch sind. Wir leben mitten in der Gesellschaft, mitten in der Welt – und diese Welt wird von Politikern regiert, nicht von Sportorganisationen. Die Politiker müssen ihrer Verantwortung nachkommen und diese nicht auf den Sport oder die Olympischen Spiele abschieben. Natürlich sind wir mit ihnen im Dialog, wir werben dafür, dass unsere Neutralität respektiert wird. Das ist uns gerade in den letzten Monaten gelungen, sonst wären nicht Athleten aus 91 Nationen hier.
Die Athletinnen und Athleten wurden von staatlichen Sicherheitsbehörden vorbereitet auf die China-Reise, sie sind mit Wegwerfhandys gekommen, wurden von NGOs gewarnt, nichts Falsches angesichts der Null-Toleranz-Strategie zu sagen. Können Sie ausschließen, dass sie noch mal unter solchen Bedingungen zu Olympischen Spielen fahren werden?
Bach: Ich bin nicht verantwortlich dafür, was NGOs sagen. Die Athleten wissen von uns, dass die Einhaltung der inzwischen berühmten Regel 50 der Olympischen Charta, die die Redefreiheit betrifft, ausschließlich vom IOC überwacht wird. Das war in Tokio so, das war hier so – und das gilt auch für jede weitere Ausgabe der Spiele.
In letzter Konsequenz bleibt am IOC Kritik hängen für die Vergabe seiner Spiele an ein Land, das auf Menschenrechte nicht allzu großen Wert legt und für die Ausrichtung Bau- und Umweltsünden betreibt. Das kann doch auf Dauer nicht gutgehen.
Bach: Diese Kritik ist nicht berechtigt. Ich betone noch einmal, dass es für diese Rolle des IOC breite Unterstützung aller UN-Mitgliedsstaaten gibt, auch der Papst unterstützt die Olympischen Spiele. Und wenn die Länder, die keine Regierungsvertreter nach China schicken wollten, ihren Athleten trotzdem viel Erfolg wünschen und sie zur Anreise motivieren, ist das auch eine Form der Unterstützung. Der Erfolg der Spiele bemisst sich an dem, was auf dem Spielfeld passiert, und nicht daran, wer auf den Tribünen sitzt.
Sie haben Peng Shuai in Peking getroffen, waren mit ihr bei Wettkämpfen. Wann kommt sie zum Gegenbesuch nach Lausanne?
Bach: Wenn die Pandemie es erlaubt. Im Moment sind die Maßnahmen in China noch sehr strikt.
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Die Sportwelt hat sich nach ihren später wieder zurückgenommenen Missbrauchsanschuldigungen gegen einen früheren Politiker und ihrem zwischenzeitlichen Verschwinden sehr um sie gesorgt. Bleiben Sie mit ihr weiter in Kontakt?
Bach: Es war vom ersten Austausch an unser Anliegen, jedem deutlich zu machen, dass es keine einmalige Videokonferenz war. Deswegen haben wir uns im November zum Treffen hier verabredet und nun auch die Einladung nach Europa ausgesprochen. Wir haben die Frage beantwortet, die sich die Welt gestellt hat: Wo ist Peng Shuai? Wir haben den Kontakt gesucht und gefunden. Jeder konnte sich hier von ihrer körperlichen Unversehrtheit überzeugen. Wir werden weiter verfolgen, was mit ihr passiert. Es geht um sie persönlich, wie sie leben möchte – was immer sie in diesem Zusammenhang entscheidet, werden wir unterstützen.
Die Frage ist, wie es ihr ergehen wird, wenn das Raumschiff Olympia abgehoben und Peking wieder verlassen hat.
Bach: Sie wird hoffentlich im Sommer oder Frühherbst nach Lausanne kommen. Das zeigt ihre Bewegungsfreiheit und schließt eine Reise in weitere europäische Orte mit ein.
Bei all den angesprochenen Problemen: Haben Sie Verständnis dafür, dass die Bürger in traditionellen Wintersportländern wie Schweiz, Norwegen und Deutschland lieber die Finger von Olympischen Spielen lassen?
Bach: Wir haben das zur Kenntnis genommen und deswegen das Verfahren zur Vergabe der Spiele revolutioniert. Für die Winterspiele 2030 haben wir interessierte Städte und Regionen aus drei Kontinenten – inklusive Europa. Dies zeigt, dass diese Änderung gewirkt hat. Eines muss ich aber auch sagen.
Bitte sehr.
Bach: Die Winterspiele können nicht für Europa reserviert werden, nur weil es dort eine Wintersporttradition gibt. Sie sprachen von klassischen Wintersportländern – die Welt ändert sich. In Europa hat der Wintersport erhebliche Herausforderungen in Bezug auf den Klimawandel. Wir sollten bezüglich der Skepsis auch nicht von einem Europa sprechen, die nächsten Winterspiele finden in Milano und Cortina in Italien statt. Die Skepsis ist aber in einzelnen Ländern verbreitet, leider insbesondere auch in meinem Heimatland.
Mal sehen, wie die Chinesen ihre neuen Möglichkeiten nun nutzen werden.
Bach: Die Welt hat gesehen: Es gibt Berge in China, es gibt Schnee in China, es gibt 2000 Wintersportanlagen über das Land verteilt. Wir haben hier eine große Begeisterung gespürt. Mehr als 300 Millionen Menschen sind mit diesen Winterspielen an den Wintersport herangeführt worden. Diese Menschen sichern die Nachnutzung der Anlagen. Gerade die jüngere Generation hat diese Olympischen Winterspiele angenommen, die Nutzerzahlen auf den digitalen Plattformen steigen exponentiell. Und eine Reihe von internationalen Wintersportverbänden sind in Gesprächen mit China über die Ausrichtung von Weltcups und Weltmeisterschaften.
Wie wollen Sie aber in Deutschland das Vertrauen in Olympische Spiele wieder aufbauen, gerade wenn es auch darum geht, von dort noch mal eine Bewerbung zu erhalten?
Bach: Das tue ich doch schon gerade, indem ich für unsere Werte werbe. Ich glaube, es gibt eine gewisse Diskrepanz zwischen der öffentlichen Meinung und der veröffentlichten Meinung. Die Fernsehquoten und die digitalen Zugriffe bestätigen mich darin. Die Menschen interessieren sich weiterhin für Olympia.
Rechnen Sie über kurz oder lang noch mal damit, dass Deutschland seinen Hut in den Ring wirft?
Bach: Dies ist eine Frage für den DOSB, der sich mit ihr beschäftigt. Ich würde mich jedenfalls sehr darüber freuen.
Lassen sich die Olympische Idee und ihre Werte überhaupt noch mit der Gegenwart vereinbaren?
Bach: Sie sind relevanter denn je. Die Spannungen in der Welt sind virulent. Wir sind aus meiner Sicht über eine Phase des Kalten Krieges hinaus – es ist nicht West gegen Ost, sondern dieses Land gegen jenes. Auch im Westen sind Staaten oft unterschiedlicher Auffassungen. In solchen Phasen ist es besonders wichtig, dass man die Menschen zusammenbringt. Wenn sich hier ein ukrainischer und ein russischer Athlet umarmen, wenn chinesische Sportler ihren US-amerikanischen Konkurrenten eine Pin-Sammlung schenken und die wiederum den chinesischen freiwilligen Helfern High-Fives geben, dann sind das zwar nur Symbole. Aber in einer spannungsreichen Zeit, die extrem von Rhetorik und Symbolen bestimmt wird, sind sie wichtiger als je zuvor.
Glauben Sie, dass es in 30, 40 Jahren noch Olympische Spiele geben wird? Mit einem Alleinstellungsmerkmal und ohne ein gleichwertiges Gegen-Event?
Bach: Zum ersten Teil Ihrer Frage: Ja. Das können wir aus einer sehr sicheren Position heraus sagen. Wir haben bereits heute Interessenten bis zum Jahr 2040. Dies zeigt die Attraktivität der Spiele und das weltweite Vertrauen in das IOC. Meine Nachfolger werden eine gesunde Basis vorfinden. Die Werte der Spiele sind zutiefst human. Ich hoffe sehr, dass es nie eine Zeit oder Gesellschaft geben wird, in der humane Werte nicht mehr geschätzt und nicht mehr in einer Weise gefeiert werden wie bei Olympischen Spielen.