Peking. Olympische Winterspiele im Covid-Kokon: Wie werden die Wettkämpfe von Peking in Erinnerung bleiben – gut oder schlecht?

Gut möglich, dass Wang Yaping 400 Kilometer hoch über der Erde alles viel besser gesehen hat als Augenzeugen auf der Erde rund 30 Meter Luftlinie entfernt. Nahe dem Crowne Plaza Hotel gab es am Montagmorgen einen Polizeieinsatz mit viel Blaulicht. Wer festen Boden unter den Füßen hatte, bekam davon erst mit, als er mit dem Bus den militärisch gesicherten Hotelkomplex samt kunstrasenbedeckter Abperrzäune verlassen hatte. Es darf ja nichts durchflutschen bei diesen Olympischen Spielen – kein Besucher, hin und wieder sogar nicht mal ein unerwünschter Blick in die andere Welt.

Wang Yaping jedoch, sollte sie rausgeschaut haben, dürfte eine fantastische Sicht auf den wolkenlosen östlichen Rand des Pekinger Stadtzentrums gehabt haben. Die 42-Jährige ist gerade als Taikonautin, wie chinesische Astronautinnen genannt werden, auf der Raumstation Tianhe. Sind ihre Missionsaufgaben erledigt, hält sie Millionen von Erdbewohnern per Video Live-Vorträge über Weltraumphysik und zeigt traumhafte Fotos von unserer atemberaubenden, aber manchmal auch sehr zerbrechlichen Kugel.

Das IOC macht sich zum Erfüllungsgehilfen

Beim Blick auf die Welt und dem, was auf ihr geschieht, gibt es unterschiedliche Ansichten. Das gilt vor allem für diejenigen, die für die Olympischen Winterspiele nach China gereist sind, sich dort innerhalb eines Covid-Kokons befinden, abgeschottet von der einheimischen Bevölkerung, gerade parallel und doch aneinander vorbei leben. Was sind das nun für Spiele? Gute? Schlechte? Skandalöse? Unverzichtbare?

Einigkeit herrscht, dass diese Spiele gar nicht in China ausgetragen werden dürften. Das dortige Regime unterjocht Bürger, pfeift auf Menschenrechte, schränkt freies Denken mit einer Überwachungsmaschinerie rigoros ein – selbst ohne die Mauern, die das Corona-Virus für das einstige Treffen der Jugend der Welt hochgezogen hat, gibt es genügend Gründe, das Gastgeberland zu verurteilen. Und für viele Kritiker macht sich das Internationale Olympische Komitee mit Thomas Bach an der Spitze obendrein zum Erfüllungsgehilfen von Staats-Chef Xi Jinping und seinen Propagandaspielen.

Die Einheimischen müssen draußen bleiben

Los geht es mit dem Bus, nachdem man den Linienplan so intensiv studiert hat wie Konfuzius’ Lehren. Selbst im Schnee, der am Wochenende in der äußerst niederschlagsarmen Hauptstadt gefallen ist, machen ein paar Frauen an einem Kanal Tai-chi; Kinder halten Hand auf dem Weg zur Schule. Zwischen ihnen und dem Bus: ein Zaun, ein Schild mit der Aufschrift „Closed Loop – No Entry“. Hier kommst du nicht rein. Das gilt für den Austausch mit Einheimischen, aber auch für den Zugang zum Internet.

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© Getty

Das Olympia-Netz in den Bussen und an den Wettkampfstätten ermöglicht Einblicke in soziale Netzwerke, die für Chinesen tabu sind. Manche von ihnen sind darüber gar glücklich. Eileen Gu, die in San Francisco geborene, aber für das Reich der Mittel startende und mit Olympia-Gold dekorierte Ski-Freestylerin, handelte sich zuletzt einen Shitstorm ein.

Ski-Star Eileen Gu handelt sich Kritik ein

Die 18-Jährige hatte ihre Co-Landsleute animiert, sich einen VPN-Zugang für ihre Smartphones herunterzuladen und ihrer Instagram-Show zu folgen. Diese technische Trickserei ist in China strengstens verboten – die Reaktionen auf ihren Aufruf haben Eileen Gu klar gemacht, wie schwierig es für sie sein wird, in einem geopolitischen Streit zwischen China und den USA Brücken der Verständigung bauen zu wollen.

Was den Chinesen ohne Facebook und Co. entgeht, ist manchmal gut verzichtbar. Beim Kurzempörungsdienst Twitter gab es einen deutschen Aufschrei des Entsetzens über die Big-Air-Schanze Shougang, wo alle Augen auf Eileen Gu gerichtet waren. Zwischen Internierungslager und Atomkraftwerk wähnten einige diese imposante Wettkampfstätte.

Begeisterung über die Schanze im Industriegebiet

Die Wahrheit ist: Sie befindet sich auf dem Areal eines 2008 geschlossenen Stahlwerk-Giganten, diese Rußschleuder hat jahrelang erheblich zur Luftverschmutzung in Peking beigetragen. Dort entstehen nun vor einer Industriekulisse Büros, Museen, Geschäfte – eine Mischung aus Zeche Zollverein und Landschaftspark Nord auf Chinesisch. Ist das im Ruhrgebiet auch alles schlecht?

Die Big-Air-Schanze auf dem Gelände eines ehemaligen Stahlwerks sorgte für Kritik im Internet - und Begeisterung bei den Athleten.
Die Big-Air-Schanze auf dem Gelände eines ehemaligen Stahlwerks sorgte für Kritik im Internet - und Begeisterung bei den Athleten. © dpa

Die Hauptakteure zeigten sich von der ungewöhnlichen Rampe begeistert. „Ich habe noch nie etwas Größeres und Cooleres gesehen“, sagte Freestyle-Skifahrerin Aliah Delia Eichinger. Irrsinn ist und bleibt es natürlich, für angeblich bis zu 2,5 Milliarden Euro einen Eiskanal in eine verlassene Bergregion zu pflanzen, oder Skigebiete mit alpenländisch anmutenden Hotelanlagen zu bauen und dafür Naturschutzgebiete zu verlegen. Woran übrigens auch deutsche und österreichische Firmen viel Geld verdient haben.

Kaum Beschwerden der Athleten über die Bedingungen

Gleich welcher Wettkampfort: Über die Bedingungen in Peking, Zhangjiakou und Yanqing hört man nahezu keine Beschwerden von Athletinnen und Athleten, auch wenn die Atmosphäre manchmal freudlos ist. Deren tatsächlicher Job ist es, das volle Leistungsvermögen zu zeigen, sich eventuell die Prämienvereinbarungen mit Sponsoren abzuholen und sich nicht aus Spaß an der Freud’ zum Sport zu treffen, um ein paar Zuschauer damit zu erfreuen.

„Es gab vorher viel Kritik und Vermutungen, aber mein Eindruck ist sehr positiv“, sagte Katharina Hennig aus der Langlauf-Silberstaffel, das olympische Dorf in Zhangjiakou gefalle ihr „sogar besser als das vor vier Jahren in Pyeongchang“. Skeleton-Olympiasiegerin Hannah Neise freute sich über höfliche Volunteers, mit denen sie Pins getauscht hätte, „das war neben dem Sport hier meine größte Beschäftigung. Alles in allem war es eine schöne Erfahrung, hier gewesen zu sein.“

Der Plan von Biathletin Denise Herrmann ging perfekt auf

Und so entstanden auch in Peking bereits wunderbare Geschichten, die sich traditionsbewusste Wintersport-Anhänger lieber für St. Moritz, Oslo oder München und Garmisch-Partenkirchen gewünscht hätten, wo man sich aber gegen Olympia entschieden hatte.

Erin Jackson holte als erste schwarze Eisschnellläuferin Gold - dank ihrer Teamkollegin.
Erin Jackson holte als erste schwarze Eisschnellläuferin Gold - dank ihrer Teamkollegin. © dpa

Ein paar Beispiele gefällig? Der perfekt aufgegangene Saisonplan von Biathletin Denise Herrmann bei ihrem Olympiasieg. Das erste Gold einer schwarzen Eisschnellläuferin, das die Amerikanerin Erin Jackson feiern durfte, weil sie trotz verpatzter Ausscheidungsrennen die aussichtsreichere Medaillenanwärterin war und ihre Freundin Brittany Bowe ihr den Peking-Startplatz überlassen hatte.

Der Kampf um die Deutungshoheit geht weiter

Die Abende im Eiswürfel, an denen Stefania Constantini kommandierte und Amos Mosaner wischte, so dass Italien nun dank seiner „Buona Linea“ und Mixed-Gold stolz auf Calzone, Cappuccino und Curling sein kann. Oder der Triumph des kanadischen Snowboarders Max Parrott – über den an Weihnachten 2018 diagnostizierten Lymphdrüsenkrebs und nun im Slopestyle.

Die Italiener Amos Mosaner (vorne) und Stefania Constantini überzeugten im Curling-Mixed.
Die Italiener Amos Mosaner (vorne) und Stefania Constantini überzeugten im Curling-Mixed. © Getty

Noch bis Sonntag laufen die Olympischen Winterspiele, dieser Mix aus berechtigter Kritik, kaum zu ertragender Schönfärberei und zum Glück auch emotionalen Sporterlebnissen. Der Kampf um die Deutungshoheit, was von Peking 2022 in Erinnerung bleibt, wird aber auch dann noch nicht entschieden sein, wenn die letzte Goldmedaille vergeben ist.