Zhangjiakou. Denise Herrmann wird sensationell Olympiasiegerin. Erst 2016 ist sie vom Langlauf gewechselt - und weckt nun Hoffnung auf weitere Medaillen.
Der Moment des größten Glücks beschert Biathletinnen schon mal die unangenehmsten Bilder von sich selbst. 15 Kilometer fühlen sich wie eine quälende Ewigkeit an. Noch einmal heißt es, alle Kräfte freizusetzen, auch wenn jeder Stockeinsatz schwerer fällt, je näher die Ziellinie heranrückt. Denise Herrmann ist im ersten olympischen Einzelrennen kaum mehr zu einem Ausfallschritt fähig, der die Uhr noch einen Tick früher anhalten soll und am Ende Gold wert sein kann. Speichelfäden hängen der 33-Jährigen aus dem Mund, der Mund ist aufgerissen, die Augen sind zugekniffen. Kurz danach sackt sie zu Boden, den Unterarm zwischen Stirn und dem kalten Schnee. Ihr Rennen ist beendet, doch es beginnt der noch schlimmere Teil: Reicht die Zeit jetzt auch?
„Das Warten ist fast krasser“, sagt Herrmann, während sich noch einige Konkurrentinnen in der Loipe befinden. Die Ungewissheit hält noch einige Minuten an, wird langsam durch ein Kribbeln ersetzt und geht letztlich in Ekstase auf. Erste. Gold. Olympiasiegerin. Herrmann schießen Tränen in die Augen. „Olympiasiegerin – das klingt wirklich gut“, haucht sie nach 19 Treffern am Schießstand ins goldene Glück und einer starken Leistung in der Loipe heraus.
Vanessa Voigt verpasst knapp die Bronzemedaille
Für Denise Herrmann war das Gold-Rennen ein Sieg über die eigenen Dämonen. Sie ist keine Freundin des Stehendschießens, hat sich damit schon mehrere Top-Platzierungen verbaut. „Ich wusste: Beim Schießen musst du cool bleiben, da kommt es nicht auf die Zeit an.“ Liegend fallen alle Scheiben, nur bei der ersten Fünferserie im stehenden Anschlag bleibt das dritte Zielfeld schwarz. Doch die Konkurrenz patzt ja auch. Die Französin Anais Chevalier-Bouchet mit dem 19. Schuss, sie gewinnt am Ende mit 9,4 Sekunden Rückstand Silber. Die Norwegerin Marte Olsbu Röiseland mit dem 20. Schuss, ihr zweiter Patzer kostet Gold, bringt aber noch Bronze (+ 15,3 Sekunden). Denn Vanessa Voigt (24) läuft zwar das Rennen ihres Lebens, kommt aber nur ein knapp eine Sekunde später als Röiseland ins Ziel. „Letztlich ist der vierte Platz wie eine Goldmedaille für mich“, sagt die Thüringer Olympia-Novizin.
Aber was ist schon so ein Rennen gegen die anschließenden Verpflichtungen als Olympiasiegerin? Dopingprobe, Interview-Marathon, das Foto mit dem deutschen Biathlon-Team am Siegerpodest ist Usus. Gut eine Stunde nach dem Renn-Ende steht Denise Herrmann außerhalb des Medienzentrums, es friert nicht so wie in den Tagen zuvor. Mit ihrem Lächeln, freigesetzt durch den Sensations-Coup, brächte sie derzeit wohl sogar einen Eisblock zum Schmelzen. „Ich habe versucht, den perfekten Wettkampf zu machen – und es war das perfekte Rennen“, sagt die Frau aus dem Erzgebirge, die mittlerweile aber im bayrischen Ruhpolding ihren Lebensmittelpunkt hat.
Denise Herrmann ist erst 2016 vom Langlauf gewechselt
Ein perfektes Rennen, damit war nach dem bisherigen Saisonverlauf nicht zu rechnen. Ein dritter Platz zum Auftakt in Östersund war aller Ehren wert, doch danach lief bei Denise Herrmann nichts zusammen. Nur vier Top-Ten-Plätze, eine individuelle Saisonplanung mit Höhentraining und jeder Menge Tüfteln an der Waffe. Der Weltcup als Nebensächlichkeit und dauerhafte Vorbereitung auf das große Ziel Olympia. „Ich habe ordentlich auf die Fresse bekommen dieses Jahr“, so Denise Herrmann über unbefriedigende Resultate. „Aber ich konnte immer in den Spiegel gucken und sagen: Ich habe alles getan.“ Zweifler gab es viele, die ihr zwei Jahre nach dem WM-Titel in der Verfolgung in Östersund nicht noch mal so eine Leistung zugetraut hatten. Herrmann wusste es besser: „Ich war für mich immer zur richtigen Zeit voll da.“
Das war Denise Herrmann auch, als sie 2016 die beste Entscheidung für ihren sportlichen Werdegang traf. In Oberwiesenthal war sie zu einer vielversprechenden Langläuferin geworden, ehe ein Jahr Dopingsperre wegen der Einnahme eines verbotene Hustensaftes die Dritte der Juniorinnen-WM zurückwarf. Der große Durchbruch gelang trotz der Bronzemedaille mit der Staffel 2014 bei den Olympischen Spielen in Sotschi jedoch nicht.
Also: die Langlaufskier behalten, aber das Gewehr dazu nehmen. „Ich bin froh, dass ich das gemacht habe. Das Risiko war es wert“, sagt Herrmann nun. Nur Susi Erdmann (54) gewann zuvor in Olympiamedaillen in zwei verschiedenen Wintersportdisziplinen: erst mit dem Rodel 1992 in Albertville (Bronze) und 1994 in Lillehammer (Silber), dann im Bob 2002 in Salt Lake City (Bronze). Herrmann: „Ich bin superstolz, dass ich zwei Medaillen in zwei Sportarten habe.“
Im Sprint am Freitag will das Team nachlegen
Den deutschen Biathleten nimmt das Gold erst einmal den großen Druck, Medaillen liefern zu müssen, wie es vor vier Jahren in Pyeongchang noch siebenmal gelang. Die goldene Ära von Magdalena Neuner und Laura Dahlmeier ist vorbei. „Diese Zeit wird es leider nicht mehr geben, auch wenn das schön für Deutschland war“, sagt Frauen-Bundestrainer Kristian Mehringer. Denise Herrmann nimmt sich dennoch für die weiteren ihre einstige Teamkollegin zum Vorbild: „Ich habe versucht, mich zu erinnern, wie Laura in Korea mit dem Druck umgegangen ist.“ Einmal ist das schon blendend gelungen. Es liegt nahe, dass die neue Olympiasiegerin im Wiederholungsfall am Freitag im 7,5-Kilometer-Sprint daher noch mal Bilder von sich wie an diesem Montag in Kauf nehmen würde.