Essen. Zwischen Willkür, Manipulation und Cyberattacken: Am kommenden Freitag beginnen in Peking die Olympischen Hochrisikospiele.
Die letzten Tage in Deutschland hat Karl Geiger in Willingen verbracht. Ein beruflicher Termin, noch mal Weltcupspringen im Sauerland, bevor es an diesem Montag von Frankfurt aus nach China zu den Olympischen Winterspielen geht. Vor der Fahrt nach Willingen aber genoss der 28 Jahre alte Skispringer bewusst etwas Zeit in seiner Heimat Oberstdorf. „Das letzte Mal daheim trainieren“, erzählt Geiger, wie er im Allgäu noch einmal Kraft tanken konnte für den bevorstehenden Jahreshöhepunkt. Auf dem Trainingsplan stand in Oberstdorf vor allem: keinen Kontakt zu Menschen haben. Schließlich ist jede Person im engen Umfeld eines Sportlers derzeit eine zu viel.
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Geigers Frau Franziska war in dieser Zeit bei ihren Eltern, mit dabei die kleine Tochter Luisa (1). „Wir haben aber auch vorher schon getrennt geschlafen“, erklärt Geiger. Was sich nach Ehekrise anhört, ist es natürlich nicht, sondern reiner Schutz vor einer möglichen Ansteckung: „Die Olympischen Spiele sind das Größte, was ein Sportler erleben darf“, sagt der Mitfavorit auf Gold in Peking und fügt mit einem Augenzwinkern hinzu: „Da lohnt es sich, extrem diszipliniert zu sein.“
Das IOC gibt China alle Macht für Olympia
Entbehrungen sind im Spitzensport unerlässlich, um erfolgreich zu sein. Um im Eiskanal die richtige Linie zu treffen, in der alpinen Abfahrt die Schussfahrt optimal auszunutzen oder in der Loipe noch mal zum letzten Sprint anzusetzen, müssen die Athletinnen und Athleten viel trainieren, sich gesund ernähren, auf viel Freizeit verzichten. Das gilt für alle 149 Mitglieder von Team Deutschland, die größtenteils am Wochenende nach China aufgebrochen sind oder dies an diesem Montag tun. Am Freitag werden die 24. Olympischen Winterspiele in Peking eröffnet. Ob Athlet, Trainer, Arzt, Funktionär oder Journalist – für jeden werden es die Olympischen Hochrisikospiele sein.
Von Olympia-Teilnehmern wird heutzutage mehr erwartet, als lediglich den jeweiligen Sport zu repräsentieren. Sie sind Botschafter für ihr Land, Hoffnungsträger für Medaillen – und für den Zeitraum von gut zwei Wochen vielbeäugte Menschen, die für das Gute in der Welt werben sollen. Damit ist das aber so eine Sache in Peking. China ist unbestritten der umstrittenste Olympia-Gastgeber seit langer Zeit, die Menschenrechtslage im Reich der Mitte rief viel Kritik hervor. Wer die Missstände anspricht, wird im bevölkerungsreichsten Land der Erde jedoch bestraft; es ist nicht üblich, in China offen seine Meinung zu äußern. Auch wenn Thomas Bach (68), Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), sagt: „Peking 2022 wird ein großer Moment sein, um die Welt im Geiste des Friedens, der Solidarität, der Freundschaft zusammenzubringen.“
Vor der Olympia-Reise nach Peking geht's zum Auswärtigen Amt
Wo Angst und Skepsis herrschen sowie Aufklärungsgespräche beim Auswärtigem Amt zur Reisevorbereitung gehören, kann die Jugend der Welt jedoch nicht fröhlich und unbeschwert zusammenkommen. Die Gefahr von Repressalien seitens der chinesischen Regierung für Äußerungen oder gar Protestaktionen, die nicht in ihrem Sinne sind, ist groß. „Natürlich freue ich mich auf den Wettkampftag“, sagt Ramona Hofmeister (25), die Snowboarderin war 2018 in Pyeongchang Bronzemedaillengewinnerin im Parallelslalom. „Aber drumherum gibt es so viel negative Energie, die Vorfreude ist nicht ganz so wie vor vier Jahren.“ Oder wie es der dreimalige Rodel-Olympiasieger Felix Loch (32) formuliert: „Es ist irgendwo traurig“, wenn nach den vier Rennen im Eiskanal von Yanqing „das zweite Highlight der Olympischen Spiele der Flug nach Hause ist“.
Organisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch fordern, dass es für die Sportler keinerlei Einschränkungen bei Meinungsäußerungen geben dürfe. Aber auch wenn sich der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) vor seine Entsandten stellt, wird vom IOC keine weitere Unterstützung zu erwarten sein: Der Fünf-Ringe-Orden hatte erklärt, dass seine 2017 verkündeten Menschenrechtsverpflichtungen für Peking 2022 nicht gelten. Auch der Ausrichtervertrag sieht vor, dass alles, was auf chinesischem Boden passiert, mit chinesischem Recht übereinstimmen muss. Wer will bei all den bekannten Folgen für Andersdenke da schon aufbegehren? Mehr denn je ist es für die Athleten angebracht, sich in den floskeligen Konzentrationstunnel zu begeben. Skifahrer Linus Straßer (28), Slalom-Sieger in Schladming, meint: „Ich bleibe dabei, was Aksel Lund Svindal gesagt hat: Wir brauchen nicht eine oder zwei Wochen vorher anfangen, uns zu beschweren. Das hätte man auch vor vier oder sechs Jahren wissen können.“
Angst vor Corona und gefälschten Tests bei Olympia in Peking
Eine andere große Sorge bereitet den Sportlern das Corona-Virus, das für ein schnelles Ende der Olympia-Träume sorgen kann. Jeder kann mit negativen Testergebnissen in den Flieger steigen und in Peking mit einem positiven Resultat herauskommen. Es bringt nichts, sich vor Ort im geschlossenen Kreislauf an das 70-seitige IOC-Playbook mit Verhaltensregeln zu halten, sollte es wie vom DSV-Alpinchef Wolfgang Maier („Du bist dem komplett ausgeliefert“) und Snowboard-Deutschland-Präsident Hanns Michael Hölz („Wir alle wissen, dass die Chinesen sich im Bereich Snowboard das eine oder andere ausrechnen. Und wir reisen mit einem sehr starken Team an.“) befürchtet zu Manipulationen kommen. Norwegens Langlauf-Chef Espen Bjervig ahnt auch, dass nicht nur die Form über Gold, Silber und Bronze entscheiden wird, sondern auch, ob das Virus einen verschont: „Es ist ein bisschen wie Bingo.“
„Seit Sotschi wissen wir“, sagt der Pharmakologe Fritz Sörgel mit Blick auf den russischen Dopingskandal bei den Winterspielen 2014, „dass Wände plötzlich Löcher haben können.“ China hat die Grenze für den CT-Wert, der angibt, wie ansteckend man ist, von 40 auf 35 gesenkt (in Deutschland gilt 30). Bei den Trainern bleiben jedoch Befürchtungen, dass die Olympia-Gastgeber unliebsame Kontrahenten mit frisierten Tests aus dem Rennen nehmen könnten. Bei einem positiven Test soll zur Absicherung binnen fünf Stunden ein weiterer Test unter Aufsicht eines Expertengremiums durchgeführt werden; wer keine Symptome aufweist, kann nach zwei negativen Ergebnissen mit mindestens 24 Stunden Abstand zwischen den Proben die Isolation verlassen. Beruhigend klingen die Worte von Huang Chun nicht, aber der Vize-Chef im Organisationskomitee für Pandemie-Vorsorge sagt: „Diesen Labor-Ergebnissen kann man gut trauen, jedwede Zweifel sind unnötig.“
Das größte Zugeständnis des IOC an China und dessen Staatschef Xi Jinping, Träger des Olympischen Ordens, ist aber, die Spiele wegen der Pandemie nicht verlegt zu haben. Zu Corona-Zeiten lassen sich alle ausländischen Gäste, die in den letzten zwei Jahren der totalen Abschottung kaum eingereist wären, überwachen, wie es die einheimische Bevölkerung zu erdulden hat.
Alle Olympia-Reisenden können mit einer App auf dem Handy ausspioniert werden
Jeder Olympia-Teilnehmer muss 14 Tage vor der Abreise über die App My2022 Körpertemperatur und Wohlbefinden in eine Art Gesundheitstagebuch eintragen. Diese App, die laut IOC und Organisatoren der Kontaktverfolgung im Falle positiver Corona-Tests dient, offenbart aber riesige Sicherheitslücken. Durch diese können alle Geräte ausgespäht werden, sensible Daten wie Trainingserkenntnisse lassen sich leicht abzapfen. Dateianhänge und Audiomitteilungen von Reportern könnten kontrolliert werden, in der App ist schon eine Textdatei mit 2442 Begriffen gefunden worden, die von der chinesischen Regierung als illegal eingestuft und auf den Index gesetzt wurden. Die deutschen Athleten haben neue Handys bekommen, die hinterher vernichtet werden. Hermann Weinbuch (61), Bundestrainer der Nordischen Kombinierer, hat sich eine Sicherheits-App darauf einrichten lassen, um verschlüsselt zu kommunizieren: „Meine Jungs haben mir das gezeigt, ich bin zu alt für diese technischen Sachen.“ Sein Skisprung-Kollege Stefan Horngacher (52) hat vorsichtshalber alle wichtigen Infos in einem kleinen Büchlein notiert: „Und meine Schrift kann manchmal sogar ich nicht lesen.“
Vielleicht hilft es allen Beteiligten, die Olympischen Hochrisikospiele mit einem Schuss Humor anzugehen, um nicht in Paranoia zu verfallen. Am Ende bleibt es aber bei der Einschätzung des inzwischen zurückgetretenen Ski-Stars Felix Neureuther, der zu Olympia in Peking sagt: „Es sind leider Gottes Spiele, die nicht für Sportler und Sportlerinnen gemacht sind.“