Berlin. Claudia Pechstein stellt mit ihrer achten Olympia-Teilnahme einen Rekord auf. Doch Bestmarken sind nicht alles in ihrem Leben.
Sie ist eine Frau, die Maßstäbe gesetzt hat. Deshalb wurde Claudia Pechstein zur erfolgreichsten deutschen Winterolympionikin. Weil sie ein enormes Durchhaltevermögen besitzt, wird die Eisschnellläuferin aus Berlin, die bereits 49 Jahre alt ist, ab nächster Woche in Peking ihre achten Olympischen Spiele erleben und damit einen Rekord aufstellen.
Vorher darf sie womöglich noch eine andere Aufgabe erfüllen, sie gehört zu den Kandidatinnen, die die deutsche Fahne bei der Eröffnungsfeier tragen könnten. „Es wäre natürlich eine große Ehre für mich und ein gewisser I-Punkt auf meiner Karriere“, sagt sie dazu. Im Interview spricht Pechstein auch über den Sport in einer anderen Rolle, Probleme des deutschen Eisschnelllaufs und Ambitionen jenseits der Eisbahn.
Frau Pechstein, als Sportlerin geht man grundsätzlich eher positiv gestimmt in einen olympischen Wettkampf. Aber wie schwer ist es eigentlich gerade, negativ zu bleiben?
Claudia Pechstein: Natürlich muss man viele Kontakte vermeiden. Angst habe ich zwar nicht, aber eine Gefahr, sich anzustecken, besteht bei jedem. Das schlägt sich auch auf die Vorbereitung nieder, ich konnte zuletzt wegen Vorsichtsmaßnahmen nicht mehr mit meinen gewohnten polnischen Trainingspartnern aufs Eis. Das ist alles andere als optimal.
Und auch nicht durch Erfahrung wettzumachen?
Ich habe das Glück, dass es bei mir nicht mehr um Medaillen geht. Daher sehe ich das entspannter. Das werden für mich die ersten Spiele allein unter dem olympischen Motto: Dabei sein ist alles. Aber natürlich will ich nicht als Letzte ins Ziel kommen. Ich gebe immer mein Bestes und will auch Leistung zeigen. Was unter diesen Bedingungen aber sehr schwierig wird.
Richtig wertgeschätzt fühlt sich die Berlinerin nicht immer
Inwieweit beeinflusst das die Vorfreude auf die Spiele? Auch im Zusammenhang mit den sehr restriktiven Vorschriften in Peking?
Corona beeinflusst alles, seit zwei Jahren. Seitdem ist Sport für mich eine Nebensache, wenn auch die schönste der Welt. Wenn man bedenkt, dass viele Menschen sterben und niemand genau weiß, was der Virus mit dem Körper macht, spielt Sport einfach nicht mehr eine so große Rolle.
Wie ordnen Sie diese Spiele in Ihrer Karriere ein?
Wenn ich starte, sind das Rekordspiele. Acht Mal dabei zu sein als einzige Frau weltweit, das macht Peking für mich zu ganz besonderen Spielen. Unter ganz besonderen Umständen.
Als Sie 1992 Ihre ersten Spiele bestritten, waren Sie die Jüngste im Team, kaum jemand kannte damals Claudia Pechstein. Das ist heute ganz anders. Sie halten viele Bestmarken im deutschen Eisschnelllauf, vollenden gerade Ihr sportliches Denkmal. Was bedeutet Ihnen das?
Als ich anfing, wollte ich einmal bei Olympia dabei sein. Das ist für mich dann relativ normal geworden. Doch in Deutschland ist es nicht so, dass man sich ein wirkliches Denkmal schaffen kann. In anderen Ländern kann man sein Leben mit einem Olympiasieg finanziell absichern. Dort wird überdies meist die Karriere eines Sportlers als Ganzes respektvoll betrachtet, während bei uns oft ein negativer Ton herrscht. Gerade wenn die Ergebnisse mal nicht den Erwartungen entsprechen. Als ich in Sotschi 2014 nach acht Jahren mein olympisches Comeback gegeben habe, wurde ich gefragt, warum ich „nur“ Vierte und Fünfte geworden bin. So etwas kann ich nicht nachvollziehen.
Sie sind die erste Frau mit acht Olympia-Teilnahmen, die älteste Wettkämpferin bei Winterspielen, die älteste Weltcupsiegerin, die älteste WM-Medaillengewinnerin. Das ist nur eine kleine Auswahl. Wie wichtig sind Ihnen Rekorde?
Eigentlich gar nicht so wichtig. Eisschnelllaufen ist einfach mein Leben. Dabei sind diese Rekorde eben passiert. Und jetzt, wo sie schon mal da sind, bin ich natürlich auch sehr stolz darauf, dass ich sie alle geschafft habe. Aber es gibt in vielen Branchen Menschen, die täglich harte Arbeit leisten und damit viel erreichen, die Verantwortung übernehmen. Das sind überaus wichtige Dinge, auf die jeder genauso stolz sein kann. Obwohl es öffentlich nicht in den Himmel gehoben wird. Deswegen will ich mit meinen Rekorden nicht hausieren gehen. Es wäre auch nicht dramatisch für mich, sollte ich nach Peking nicht mehr Deutschlands erfolgreichste Winterolympionikin sein. Sollte jemand meine Bestmarke knacken, werde ich voller Anerkennung gratulieren.
Kampf gegen ungerechtfertigte Dopingsperre beschäftigt Pechstein
Worauf sind Sie am meisten stolz?
Dass mein Körper mir die Möglichkeit gibt, in diesem Alter noch so leistungsfähig zu sein. Darauf, dass ich dieses Ziel Peking erreicht habe dank der Menschen, die mich unterstützen. Und darauf, dass ich es meinen Neidern gezeigt habe.
Auch darauf, dass Sie Ihren Kampf um Gerechtigkeit so lange durchgehalten haben, nachdem Sie 2009 für zwei Jahre wegen Dopings gesperrt worden sind? Aufgrund klarer Fehleinschätzungen.
Mir ist bewusst, dass ich als ein kleiner Fisch im Ozean gegen ein System kämpfe. Aber sie haben beim Weltverband ISU gedacht, dass ich den Kampf nicht angehe. Mich gegen diese Ungerechtigkeit aufzulehnen, das ist es, was mich jeden Tag stark macht. Ich habe nichts Verbotenes getan, einen Beweis geliefert, welche Ursache meine erhöhten und schwankenden Blutwerte hatten - und immer noch haben: eine von meinem Vater geerbte Blutanomalie. Vielleicht ist das sogar der Grund, dass ich überhaupt noch auf dem Level laufen kann, weil ich mit guten Genen ausgestattet bin.
Bestimmt auch mit guten Anwälten. Aber selbst das ließ juristisch bislang keine Rehabilitation zu, obwohl die Faktenlage eindeutig ist.
Alle wissen, dass es ein Fehlurteil ist. Und ich muss mich nach 13 Jahren immer noch damit beschäftigen. Das ist einfach Wahnsinn. Mein Fall liegt seit fast sechs Jahren beim Bundesverfassungsgericht, und es immer noch nicht geklärt, ob ich als deutsche Staatsbürgerin und Bundespolizistin vor einem deutschen Gericht um mein Recht auf Schadensersatz kämpfen darf. Ich habe damals alles verloren, und ich werde unter dem sinnbildlichen Motto „Siegen oder Sterben“ definitiv bis zum Schluss kämpfen. Wenn es sein muss, auch vor dem Europäischen Gerichtshof. Ich kann nur gewinnen.
Auf dem Eis sind Siege außer Reichweite geraten, das Alter lässt sich nicht überlisten. Wie schwer war es zu sehen und zu akzeptieren, dass Podestplätze auf Ihren langen Lieblingsstrecken international nicht mehr möglich sind?
Da ich wegen meiner Leistungsfähigkeit sehr viel Respekt erfahre von der Konkurrenz, von den Trainern, von der ganzen Eisschnelllauf-Familie, war das eher einfach. Manchmal haue ich sogar noch eine Zeit raus, die den einen oder anderen ein bisschen staunen lässt. Mich hat noch keiner abgeschrieben. Obwohl ich als deutlich Älteste im Feld eigentlich immer Letzte werden müsste.
Sie haben so viele Erfolge gefeiert, von denen die meisten Sportler nur träumen können. Welche Ziele bleiben sportlich noch übrig?
Ich will mich auf nichts festlegen.
Gibt es nichts, was Sie noch erreichen möchten?
Ich bin gerade dabei, mein Trainerdiplom zu machen. Denn ich würde gern die ganzen Erfahrungen weitergeben, die ich über Jahrzehnte gesammelt habe. Vor allem an den Nachwuchs. Wie und in welchem Maße, das sehen wir, wenn es so weit ist. Das lasse ich auf mich zukommen.
Wenn Sie sich in die Trainerperspektive versetzen und auf die deutschen Eisschnellläufer schauen, was ist dann nötig, um wieder mehr internationale Spitzenläufer zu entwickeln?
Zunächst muss sich die Einstellung einiger Athleten generell ändern. Wer Schlittschuhe trägt und im Weltcup startet, hat noch lange nichts erreicht. Ich habe mir nie erklären können, wie manche seit Jahren mitmachen und noch nicht mal in die A-Gruppe kommen. Vermeintlich ohne den Anspruch, besser zu werden. Früher wären viele, die jetzt dabei sind, gar nicht im Weltcup gestartet, weil das Leistungslevel in Deutschland ein anderes war. Die Einstellung war eine andere. Das ist aber, denke ich, nicht nur ein sportliches Problem, sondern ein gesellschaftliches.
Politisches Engagement ist bei Pechstein nicht ausgeschlossen
Wenn man auf die Zahlen schaut und ein bisschen pessimistisch ist, könnte die Deutsche Eisschnelllauf- und Shorttrack-Gemeinschaft zum dritten Mal in Folge ohne olympische Medaille bleiben. Was sagt Ihnen das?
Dazu muss man nur realistisch sein, das reicht schon. Ich werde kurz nach den Spielen 50 Jahre alt und bin noch dabei, das sagt alles. Seit bestimmt 20 Jahren wurden Fehler gemacht. Dass der Verband noch existiert, ist ja nur möglich, weil Matthias Große die Präsidentschaft übernommen und einen Sponsor mitgebracht hat. Dafür können alle Sportler dankbar sein. Aber Dankbarkeit und Demut vermisse ich häufig.
Viele arbeiten sich an Herrn Große, der auch ihr Lebenspartner ist, ab, er polarisiert. Aber er packt auch an, hat schon viel bewegt. Doch vor ihm liegt noch viel Arbeit.
Wenn du einen Verband übernimmst, der total am Boden ist, bei dem so viel im Argen liegt, braucht man Zeit. Das ist klar.
Sie hatten zuletzt nicht nur sportliche Ambitionen, sondern stellten sich für den Bundestag zur Wahl. Wie haben Sie das rückblickend empfunden?
Ich wurde von der CDU gefragt, ob ich helfen kann und hatte gesagt, dass ich mich in sportlichen Belangen engagieren könnte. Aber es war klar, dass ich keinen intensiven Wahlkampf würde führen können, da ich in der Olympiavorbereitung steckte. Von daher war es nicht überraschend, dass es nicht für den Einzug in den Bundestag gereicht hat. Losgesagt habe ich mich davon allerdings nicht, wenn man etwas bewegen will, muss man sich auch politisch engagieren. Zumal Sport und Politik nicht mehr trennbar sind. Andererseits weiß ich nicht, ob ich wirklich in die Politik passe. Denn ich sage offen und ehrlich meine Meinung. Und das kommt nicht immer gut an.
Könnten Sie sich auf dieser Basis vorstellen, sich in die politischen Belange des Sports einzubringen?
Im Sport kenne ich mich aus. Wenn ich gebraucht werden würde, wäre ich dabei. Beim Thema Olympia wäre das erste, was man verändern könnte, dass man die Sportler mitnimmt. Sie müssten bei der Vergabe der Spiele mitbestimmen. Das würde zu den Olympischen Spielen passen. Peking ist kein Wintersportort, das steht fest. Auch in der Sportgerichtsbarkeit müsste man vieles überdenken, denn es gibt selbst dann keine Chance auf Wiederaufnahme des Verfahrens, wenn, wie in meinem Fall, eine medizinische Diagnose vorliegt, die den Dopingverdacht ad absurdum führt. Da braucht es dringend Reformen.
Sie werden unmittelbar nach den Spielen 50 Jahre alt. Wird das der Tag, an dem Sie über Ihre nähere Zukunft nachdenken, vielleicht den Abschied vom aktiven Leistungssport?
Auch interessant
An meinem 40. Geburtstag hatte ich eine Hausdurchsuchung. Da war mir nicht mehr nach feiern zumute. Auch wenn ich ein reines Gewissen hatte und wusste, dass man nichts finden kann, was den Dopingverdacht gegen mich erhärtet hätte. Und so war es dann ja auch. Meinen 50. würde ich gern feiern, und zwar richtig. Was jetzt wegen Corona aber nicht möglich sein wird. Also muss ich das verschieben. Was an meinem Geburtstag unter den aktuellen Umständen passiert, darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Die Zukunft ist Zukunftsmusik. Jetzt zählt nur, dass ich in Peking an den Start gehen kann.