Hamburg/Bratislava. Johannes Bitter hilft bei der Handball-EM aus. Die Corona-Krise habe den Teamgeist in der DHB-Auswahl gestärkt, sagt er im Interview.
Nach seinem Rücktritt aus der deutschen Handball-Nationalmannschaft nach den Olympischen Spielen in Tokio im August 2021 wollte Johannes Bitter die EM als Fan auf dem Sofa verfolgen. Nun ist der 39 Jahre alte Torhüter des HSV Hamburg nach dem massiven Corona-Ausbruch im Team als Nachrücker wieder mittendrin im Geschehen. Im Interview spricht er über die wohl verrücktesten Tage seiner Karriere.
Herr Bitter, Sie spielen seit mehr als 20 Jahren professionell Handball. Haben Sie schon einmal etwas erlebt, das mit dem vergleichbar wäre, was Sie aktuell mitmachen?
Johannes Bitter: Nein. Das ist wirklich eine absolute Sondersituation. Dass ich noch einmal ein großes Turnier spielen würde, ohne eine Vorbereitung mit dem Team gehabt zu haben, hätte ich mir nicht vorstellen können. Es fühlt sich auch nicht immer toll an, wenn man weiß, was möglich gewesen wäre, wenn man ordentlich trainiert hätte. Aber ich hatte mein Wort gegeben, dass ich im Notfall zur Verfügung stehe. Der ist eingetreten, und ich stehe zu meinem Wort.
Sie haben sich im November 2020 beim Nationalteam mit Corona infiziert. Wie groß war Ihre Sorge, was den gesundheitlichen Aspekt Ihrer Nachnominierung angeht?
Die Folgen der Infektion beschäftigen mich bis heute. Mein Geschmackssinn ist beeinträchtigt, dazu kommen Phasen von Müdigkeit, die ich davor nicht kannte. Aber angesichts dessen, dass ich genesen, geimpft und geboostert bin, glaube ich, dass mein Körper bestens gewappnet ist, um mit dem Virus zurechtzukommen. Deshalb belastet mich dieses Thema mental gar nicht.
Sie sind seit Dienstag beim Team, bekommen hautnah mit, welche Maßnahmen getroffen werden, und dennoch gab es weitere Neuinfektionen. Wie geht man damit um?
Es ist tatsächlich nicht zu erklären, warum es uns so hart getroffen hat, während andere Teams, die deutlich laxer mit manchen Dingen umzugehen scheinen, kaum oder gar keine Fälle haben. Man ist dauernd am Testen, Hoffen und Bangen, das ist durchaus eine belastende Situation. Aber man darf es auch nicht zu sehr an sich herankommen lassen.
Sie spielen mit einem Team, das so nie zusammengespielt hat. Wie kann man so in solch einer Lage erfolgreich sein?
Indem man sich von allem löst, was man nicht beeinflussen kann. Wer feste Rituale hat oder abergläubisch ist, hat jetzt ein Problem. Man braucht Gelassenheit, eine Portion Galgenhumor, aber vor allem Zusammenhalt. Wenn der stimmt, kann man vieles wettmachen, wie wir im letzten Vorrundenspiel gegen Polen gezeigt haben.
Sie leben strikt isoliert in Einzelzimmern, sehen sich nur zu den Spielen. Wie schafft man es, trotzdem fokussiert zu bleiben und den Zusammenhalt aufrecht zu erhalten?
Wir machen alles digital, die Teamsitzungen, die Videoanalyse. Darüber hinaus haben wir Gruppen, über die wir mit mehreren gleichzeitig telefonieren und so den Kontakt untereinander halten. Es gibt klare Pläne, wer wann wen mit Essen beliefert. Auch das funktioniert, es ist noch niemand verhungert. Natürlich ist es für Mannschaftssportler, die alle sehr kommunikativ sind, mental extrem belastend, sich in Isolation zu befinden. Aber alle nehmen diese Situation an und machen das Beste daraus.
Von vielen Spielern hört man, dass der Zusammenhalt so stark wie noch nie sei. Wie schätzen Sie das nach den drei Tagen, die Sie mit dem Team zusammen sind, ein?
Es wurde in den vergangenen Jahren ja diskutiert, ob die Nationalmannschaft an Stellenwert verloren hat, weil es einige Absagen für große Turniere gab und der Eindruck entstand, es wäre für einige keine Ehre mehr, für Deutschland anzutreten. Der Gegenbeweis, wenn es diesen brauchte, ist nun erbracht. Alle, die in der Lage sind zu spielen, haben alles möglich gemacht, um zu helfen, weil alle dieses Zusammengehörigkeitsgefühl verspüren. Hier lässt niemand sein Team im Stich, und das ist tatsächlich ein ganz besonderes Gefühl. Ich bin überzeugt davon, dass unsere Nationalmannschaft in der Zukunft von dieser Erfahrung profitieren wird. Alle sehen, was möglich ist, wenn alle an einem Strang ziehen.
Sie machen sich seit Jahren für die Belange der Handballprofis stark, haben als Mitbegründer der Gemeinschaftlichen Organisation aller Lizenzhandballer schon oft Ihre Stimme gegen die Überlastung der Spieler erhoben. Mit Blick auf die nach fünf Tagen Quarantäne mögliche Rückkehr von Infizierten: Ist dieses Risiko nicht zu groß?
Grundsätzlich bin ich für die größtmögliche Sicherheit. Aber ich vertraue den Medizinern, die die „Return to Competition“-Regeln befolgen und darauf achten, dass niemand zu früh wieder spielt. Seit zwei Tagen ist ein Kardiologe beim Team, der die Untersuchungen zur möglichen Rückkehr der isolierten Spieler begleitet.
Ist es vertretbar, die EM durchzuziehen?
Dass in der Öffentlichkeit über einen Abbruch diskutiert wird, verstehe ich. Ich wäre aber nicht hier, wenn ich die Fortsetzung nicht für vertretbar hielte. Wenn man den Wissenschaftlern glaubt, sind wir in einer Phase der Pandemie, in der wir unter Berücksichtigung aller Risiken lernen müssen, mit dem Virus zu leben. Der Risiken sind wir uns bewusst, aber ich vertraue denen, die die Entscheidungen treffen.
Was halten Sie sportlich noch für möglich mit diesem Team?
Das kann ich nicht fundiert beurteilen, ich habe ja noch kein einziges Mal mit den Jungs trainiert. Sicher ist, dass die Erfahrungen, die wir hier machen, für viele Spieler mit Blick auf die Heim-EM 2024 enorm wichtig sein werden. So war dieses Turnier im Vornherein angelegt, und so sollten wir es auch nutzen.