Essen. Deutschlands Handballer bestreiten gegen Belarus den EM-Auftakt. Mit einem jungen Kapitän und acht Neulingen ist das Team schwer einzuschätzen.

Es gibt diese Momente, da blickt Johannes Golla aus den Fenstern im zwölften Stock des Teamhotels auf die umliegenden Gebäude in Bratislava. Die deutschen Handballer wohnen im Zentrum der slowakischen Hauptstadt, doch vom Leben in der 400.000-Einwohner-Metropole bekommen sie nicht viel mit. Wegen der Pandemie. Das Team versucht so gut es geht, Infektionsgefahren zu meiden. Aber auch, weil es ohnehin nicht viele Gelegenheiten gibt, den Blick abseits von Training und Gegner-Videostudium auf andere Dinge zu richten. „Da guckt man mal kurz aus dem Fenster und genießt“, sagt Golla. „Aber dann gilt die Konzentration auch schnell wieder dem Handball.“

Johannes Golla, Kapitän und Gesicht der Handball-Nationalmannschaft

Gollas Reise vom jungen Turnierdebütanten mit überschaubarer Einsatzzeit bei der EM 2020 zum Kapitän des Nationalteams bei der EM 2022 in Ungarn und der Slowakei vollzog sich rasend schnell. Golla ist erst 24 Jahre alt, und doch ist der Kreisläufer der SG Flensburg-Handewitt schon das neue Gesicht der Nationalmannschaft. Einem jungen Team mit acht Turnierdebütanten, das am Freitag gegen Belarus in die EM startet (18 Uhr/ARD), und das dann am Sonntag gegen Österreich (18 Uhr/ARD) und am Dienstag gegen die derzeit wegen fünf Corona-Fällen geschwächten Polen (18 Uhr/ZDF) seine weiteren Vorrundenspiele bestreitet. Ein junges Team, von dem niemand so wirklich weiß, welche Rolle es beim Turnier von Europas Besten überhaupt spielen wird. Von der Medaille bis zum Vorrunden-Aus – alles ist in den kommenden Wochen möglich.

Erinnerungen an Handball-EM 2016

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Es ist eine Situation, die an den Jahresbeginn 2016 erinnert. Damals fielen zahlreiche Stammspieler verletzt aus, eine junge und unerfahrene deutsche Mannschaft unter dem isländischen Trainer Dagur Sigurdsson machte sich auf den Weg nach Polen – und wurde Europameister. Es gab in den vergangenen Wochen kaum ein Gespräch, in dem die verbliebenen Spieler des Europameisterteams nicht auf die EM 2016 angesprochen wurden, immer wieder sollten sie Vergleiche ziehen. „Einen großen Vergleich kann man da nicht ziehen, 2016 ist lange her“, meinte Julius Kühn. „Um so etwas zu wiederholen, muss schon viel zusammenkommen“, sagte Kai Häfner. Und Simon Ernst meinte nur: „Ein isländischer Trainer, viele junge Spieler – dann hören die Parallelen auch schon auf.“

Längst ist eine neue Zeitrechnung angebrochen. Alfred Gislason wurde 2020 in chaotischen Zeiten neuer Bundestrainer. Durch Corona verschob sich sein Debüt um mehrere Monate, die WM in Ägypten im vergangenen Jahr wurde mit Platz zwölf zum Desaster, und auch bei Olympia in Tokio war schon im Viertelfinale Schluss. Pandemiebedingte Absagen, Verletzungen, persönliche Auszeiten und Rücktritte von Leistungsträgern – an Normalität war für den 62-jährigen Trainerveteranen in den vergangenen Monaten nie zu denken, und auch jetzt ist sein Team mehr aus der Not als aus dem luxuriösen Aussieben der besten Spieler geboren.

Erwartungen an deutsche Handballer sind gering

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So besteht diesmal kaum das Risiko, zu enttäuschen. Zu gering ist die öffentliche Erwartungshaltung, der Verband verzichtete gar komplett auf eine Zielvorgabe und richtet den Blick schon auf die Heim-EM 2024. Die jüngsten Testspielsiege gegen die Schweiz und Frankreich gaben zwar Selbstvertrauen und ließen viel Positives erkennen, doch fehlte es dem deutschen Team auch sichtbar an Eingespieltheit, an Konstanz, an Erfahrung. Die Abwehr, jahrelang das Prunkstück deutscher Teams, muss sich noch besser finden. Erkennbar aber: Kampfgeist und Hunger sind da. Auf den Außenpositionen ist Deutschland in Marcel Schiller und Timo Kastening gut besetzt, Torhüter Andreas Wolff zeigte eine aufsteigende Form. Spielmacher Philipp Weber hat seine Schulterverletzung aus dem Frankreich-Test überstanden und ist einsatzbereit. Gislason konnte zudem durch das neue Personal die in seiner Zeit als THW-Kiel-Trainer bewährte 3-2-1-Deckung als Alternative zur klassischen 6:0-Abwehr etablieren. „Damit können wir jeden Gegner vor Herausforderungen stellen“, sagt Julian Köster, der 21-jährige EM-Neuling, der in diesem System eine wichtige Rolle übernimmt.

So geht es heute also los gegen Belarus, direkt gegen den vermeintlich stärksten Vorrundengegner. Die Belarussen um den torgefährlichen Rechtsaußen Mikita Vailupau sind eingespielt, viele Spieler sind Champions-League-erfahren. Gislason bezifferte die deutschen Chancen auf „50:50“. Es sei zwar „kein Endspiel, aber mit einem positiven Erlebnis in das Turnier zu kommen, wäre wichtig für den weiteren Verlauf“. Für die zwei Top-Teams der Vierergruppen geht es weiter in der Hauptrunde. Die würde Deutschland auch in Bratislava spielen. Johannes Golla hätte weiter Zeit, von hoch oben auf die Stadt zu blicken.