Essen. Handball-Nationalspieler Julius Kühn spricht vor dem EM-Start der deutschen Handballer am Freitag über den Zusammenhalt und Corona-Sorgen.

Julius Kühn ist mit seinen 28 Jahren längst einer der Etablierten in der Handball-Nationalmannschaft. Kein Wunder, mit neun Turnierdebütanten geht es am Mittwoch in die Slowakei. Vor dem deutschen EM-Auftaktspiel gegen Belarus am Freitag hatte der gebürtige Duisburger am Sonntag mit seinen fünf Treffern beim 35:34-Sieg im finalen Testspiel gegen Frankreich ein Ausrufezeichen gesetzt. Nun sollen bei der EM weitere folgen.

Herr Kühn, mit welchem Gefühl sind Sie diesmal zur Nationalmannschaft gereist?

Julius Kühn: Das kann ich gar nicht so genau benennen. Ich habe ja schon ein paar Turniere gespielt. Aber ein bisschen anders war es schon, weil durch die vielen personellen Veränderungen jetzt gefühlt ein frischer Wind weht. Ich habe mich daher vor der Vorbereitung auf die EM gefragt, was mich wohl erwarten wird. Jetzt weiß ich: Es herrscht eine positive Energie und eine gute Stimmung.

Sorgen waren doch sicher auch vorhanden: Fast täglich gibt es neue Nachrichten über Spieler anderer Nationen, die mit Corona-Infektionen zunächst ausfallen.

Julius Kühn: Damit beschäftigt man sich schon. Wir werden regelmäßig getestet und jedes Mal hofft man darauf, dass es keinen von uns erwischt. Es ist ja wirklich so, dass es jeden treffen kann. Von einem auf den anderen Tag kann das Turnier für jeden von uns schon vorbei sein.

Julius Kühn.
Julius Kühn. © Firo

In Uwe Gensheimer, Steffen Weinhold und Hendrik Pekeler fehlen Stützen der vergangenen Jahre. Was macht das mit einer Mannschaft, wenn solche Leistungsträger nicht mehr dabei sind?

Julius Kühn: Nun müssen zunächst einmal neue Stützen aufgebaut werden. In Johannes Golla haben wir einen neuen Kapitän, und der macht das richtig gut. Er hat das Feingefühl für die Mannschaft und ist einfach ein unheimlich netter Mensch. Es ist so, dass die Verantwortung nun breiter gefächert werden muss, und sich andere Spieler neuen Aufgaben stellen müssen und man in diese im Turnier ein Stück weit hineinwächst.

Gensheimer und Weinhold haben ihre Karriere in der Nationalmannschaft beendet, andere Spieler wie Fabian Wiede, Paul Drux und auch Pekeler sind aus persönlichen Gründen nicht dabei. Können Sie verstehen, dass der Eindruck entsteht, dass die Nationalmannschaft nicht länger Priorität zu haben scheint?

Julius Kühn: Ein Stück weit vielleicht schon. Gerade, wenn der Vergleich mit anderen Nationen herangezogen wird. Da verzichten zumindest nicht so viele Spieler auf die großen Turniere. Aber bei Kroatien hat ja nun beispielsweise auch ein Igor Karacic abgesagt, weil er angeschlagen ist. Es ist schon so, dass gerade die Bundesligaspieler einer extrem hohen Belastung ausgesetzt sind. Ich habe ja selbst einige Wehwehchen mit in die EM-Vorbereitung gebracht. Allerdings ist es noch mal etwas anderes, wenn man auch noch mit dem Verein in der Champions League spielt und man deshalb ständig auf Reisen ist. Ich kann da nur für mich sprechen: Für mich ist es das Größte, für Deutschland zu spielen, und dafür versuche ich, alles andere beiseite zu drängen. Es gibt genug andere Spieler da draußen, die gerne in unserer Position wären.

Irgendwie hat man ohnehin den Eindruck, dass es seit Jahren keine Normalität mehr für die Nationalmannschaft gibt. Auch vor Corona zwangen beispielsweise Verletzungswellen immer wieder zur Improvisation vor großen Turnieren.

Julius Kühn: Ja, das ist richtig. Es ist ganz oft so, dass da gefühlt wieder ein neu zusammengefügter Kader steht. Aber ich glaube, das kann auch immer wieder zu einer Stärke werden und es spricht für die Breite und Stärke der Spieler, die wir in der Bundesliga haben.

Es haben sich aber auch Hierarchien verändert: Ein neuer Kapitän, neun Turnierdebütanten – wie anders ist das aktuelle Nationalteam?

Julius Kühn: Gewisse Hierarchien entwickeln sich ja von selbst im Laufe der Zeit. Ich glaube aber nicht, dass es heutzutage noch so ist wie vor zehn, 15 Jahren. Also dass es ganz klare Hierarchien gibt und die älteren Spieler als Leitwölfe vorangehen und alle anderen sich daran orientieren. Das gibt es vielleicht nur noch ein Stück weit, aber es ist längst nicht mehr so extrem ausgeprägt. Ich habe insgesamt gerade einfach das Gefühl, dass hier ein sehr guter Teamgeist herrscht. Sei es, dass wir nach den Essen alle noch länger zusammensitzen, sei es bei der gemeinsamen Abendgestaltung mit Darts- oder Kartenspielen.

Wie stark schätzen Sie Ihr Team denn ein nach den Testspielsiegen gegen Schweiz und Frankreich?

Julius Kühn: Man schlägt nicht alle Tage eine solch starke Formation wie die der Franzosen. Natürlich war es ein Freundschaftsspiel, in dem auf beiden Seiten viel probiert wurde. Wir können aber trotzdem zufrieden sein, denn auch Frankreich wollte in den Schlussminuten den Sieg für sich. Wir wissen trotzdem noch nicht, welche Kraft dieses Spiel für die EM haben kann, die Leistungsdichte bei solch einem Turnier ist enorm hoch. Und wenn man zurückblickt: Vor den Olympischen Spielen hat Frankreich auch gegen Serbien verloren und einmal unentschieden gespielt. Dann holten sie in Tokio Gold. Das muss man also mit Vorsicht genießen, aber als kleine Standortbestimmung war das schon ordentlich und wir nehmen ein gutes Gefühl mit zur EM. Jeder Spieler hat seinen Teil beigetragen, alle haben geackert, speziell in der Abwehr Ballverluste provoziert. Wir tun gut daran, Schritt für Schritt zu gehen und uns statt auf Ziele auf den nächsten Gegner zu konzentrieren.

Selbst Bundestrainer Alfred Gislason sagte jüngst, dass diesem Team zur Weltspitze noch etwas fehle, dass der Erfolg nur über mannschaftliche Geschlossenheit zu erreichen ist.

Julius Kühn: Definitiv. Wenn man uns vom Papier her mit den Topnationen vergleicht, wäre es vermessen zu sagen, wir seien auf Augenhöhe. Das ist aber auch, was uns immer ausgezeichnet hat, auch 2016, als wir mit dieser Geschlossenheit Europameister wurden. Wir wissen aber sehr wohl auch, dass uns das in jüngster Zeit nicht mehr ganz so gut gelungen ist, weil es in entscheidenden Situationen doch an Kleinigkeiten gefehlt hat. Aber letztendlich ist das unser großer Pluspunkt, auf den wir bauen müssen und dass man dann in gewissen Situationen über sich hinauswächst.

Wie sehr erinnert die derzeitige Situation denn an die EM 2016?

Julius Kühn: Schwer zu sagen, gefühlt bekommen wir diese Frage ja vor jedem Turnier gestellt. Einen großen Vergleich kann man da nicht ziehen, 2016 ist lange her und es ist ja jetzt sogar ein Stück extremer als damals, wenn wir über neun Turnierdebütanten reden.

Umso wichtiger der Blick auf die Vorrundengegner. Wie schwer werden die ersten Spiele gegen Belarus, Österreich und Polen?

Julius Kühn: Primär zielte die bisherige Vorbereitung auf das Spiel gegen die Belarussen ab. Und jetzt kommt natürlich die Floskel, dass das erste immer das wichtigste Spiel ist. Und es ist ja klar: Wenn man von außen auf die drei Gruppengegner guckt, dann muss man sagen, dass man diese Gegner als deutsche Nationalmannschaft schlagen muss. Aber gerade Belarus und Polen haben viele Spieler, die auch in der Champions League und teilweise in der Bundesliga spielen. Insofern ist das alles andere als ein Selbstläufer, mit drei Siegen aus der Vorrunde herauszugehen. Wir müssen unsere Hausaufgaben machen und dürfen keinen Gegner unterschätzen.

Ihre Rolle ist die gleiche wie immer? Gefahr aus der Distanz erzeugen, also Wucht und einfache Tore ins Angriffsspiel einbringen?

Julius Kühn: Das ist ja immer das, was vom Spieler im linken Rückraum erwartet wird, dass ich als Shooter für die einfachen Tore zuständig bin. Aber gerade was die Abwehrarbeit angeht, konnte ich den nächsten Schritt machen und hoffe, nun auch dort meinen Teil beizutragen.

Sie stehen in der Bundesliga derzeit bei 81 Saisontreffern nach 18 Spielen für die MT Melsungen. Wie gut ist denn Ihre Form?

Julius Kühn: Derzeit fühle ich mich richtig gut. Anfang der Saison war alles ein bisschen ins Stocken geraten, aber seit wir im Verein den Wechsel zu Trainer Roberto Garcia Parrondo hatten, haben wir viel frischen Wind reinbekommen, viel Neues gelernt, ohne groß an Stellschrauben zu drehen. Er hat mir gewisse Dinge gezeigt, die an sich gar nicht weltbewegend waren, die mir aber vieles erleichtert haben. Das versuche ich nun, in die Nationalmannschaft mitzunehmen und ich sehe auch, dass es funktioniert.