Hamburg. Im Interview spricht Oliver Bierhoff unter anderem über den neuen Bundestrainer Hansi Flick und die Lehren der Vergangenheit.

Oliver Bierhoff erscheint pünktlich auf dem Bildschirm. Das Corona-Protokoll ist noch immer streng beim Deutschen Fußball-Bund, Gespräche mit der Außenwelt sind nur virtuell erlaubt – da wird auch für den Nationalmannschafts-Direktor keine Ausnahme gemacht.

Aber Bierhoff kennt das, als Verantwortlicher für Deutschlands wichtigste Fußballmannschaft ist er ständig in Videokonferenzen, der Terminkalender ist gut gefüllt – auch vor den Länderspielen gegen Rumänien an diesem Freitag in Hamburg und in Nordmazedonien am Montag (beide 20.45 Uhr/RTL). Dennoch nimmt sich der 53-Jährige Zeit für ein Interview.

Sie haben selbst mal in Hamburg gespielt. Wie eng ist die Bande zu Hamburg und zum HSV noch?

Oliver Bierhoff: Meine Zeit beim HSV liegt natürlich schon lange zurück, das ist mehr als 30 Jahre her. Aber die Emotion für den HSV ist immer noch da, ich verfolge, was im Verein passiert. Der HSV ist ein einzigartiger Traditionsverein, dem ich natürlich wünsche, dass er bald wieder erstklassig wird. Wir hatten damals eine klasse Mannschaft, unter anderem mit Ditmar Jakobs, Sascha Jusufi, Thomas von Heesen. Ich habe neulich einem unserer Nationalspieler erzählt, dass ich mit „Banane“ Manni Kaltz auf dem Zimmer war. Der wusste leider mit dem Namen nichts anzufangen, da bin ich fast umgefallen (lacht).

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Beim DFB sind Sie inzwischen seit 17 Jahren im Amt, länger als Angela Merkel. Müssen Sie sich manchmal kneifen, dass es schon so lange läuft?

Bierhoff: Häufig sogar. Das Ganze ist eigentlich eher als Himmelfahrtskommando für zwei Jahre gestartet. Das war zumindest damals meine Erwartungshaltung. Und dann haben wir entschieden, es nochmal zwei Jahre zu machen und irgendwie hat es sich immer wieder so ergeben. Es hat Spaß gemacht und war auch sehr erfolgreich. Die letzten drei Jahre waren ehrlicherweise zäh und schwer, aber man kann nicht immer nur die Sonnenseite mitnehmen. Und wir haben so viele interessante Projekte: die DFB-Akademie, den neuen DFB-Campus, wir haben mit Hansi Flick einen Neuanfang hingelegt, der Hoffnung macht. Insofern bin ich zwar lange dabei, aber ich spüre immer noch das Feuer vom Anfang.

Fällt es manchmal schwer, dieses Feuer zu bewahren?

Bierhoff: Es ist ja kein Geheimnis, dass ein Verband naturgemäß manchmal etwas langsamer ist, dass manches etwas zäher läuft als in einem Klub. Wenn man zum 50. Mal das gleiche Hindernis überwinden muss, fragt man sich schon manchmal: Wieso mache ich das eigentlich? Aber ich schaue immer stark nach vorne, auch im Erfolg. Als wir Weltmeister geworden sind, hatte ich schon die nächsten Projekte im Kopf, so hole ich mir immer wieder meine Begeisterung. Auch mein Job hat sich im Laufe der Jahre entwickelt. Vor mir gab es keinen Manager für die Nationalmannschaften und wir haben im Keller des DFB angefangen, mit anderthalb Mitarbeitern – für die wichtigste Mannschaft Deutschlands waren anderthalb von 100 DFB-Mitarbeitern zuständig. Mittlerweile haben wir 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beim DFB und allein in meiner Direktion arbeiten 180 Menschen.

Ein Thema war in den vergangenen Jahren immer wieder eine gewisse Entfremdung des Publikums. In Hamburg dürfen 25.000 Zuschauer ins Stadion – und alle Tickets sind vergriffen.

Bierhoff: Davon bin ich auch ausgegangen. Wir hatten bei der EM eine TV-Einschaltquote von 25 Millionen, auch bei den letzten Länderspielen im September gab es schon wieder eine steigende Tendenz. Es liegt an uns, die Gunst der Fans zurückzugewinnen. Es kamen in den vergangenen Jahren viele Faktoren zusammen, natürlich in erster Linie Enttäuschung über unsere sportlichen Leistungen. Ich glaube aber, mit Hansi Flick wieder eine Begeisterung und Freude zu spüren und ich gehe davon aus, dass uns auch die Hamburger unterstützen werden.

DFB-Direktor Oliver Bierhoff.
DFB-Direktor Oliver Bierhoff. © AFP

Hansi Flick erwartet unter anderem Gier von der Mannschaft, Gier aufs dritte und vierte Tor. Sie auch?

Bierhoff: Hansi hat schon als Co-Trainer der Nationalmannschaft und auch als Cheftrainer bei Bayern München gezeigt, dass er auf dem Platz einen positiven Geist und Hunger nach immer mehr sehen will. Ergebnisse allein reichen in diesen Zeiten nicht mehr. Wir müssen leidenschaftlich auftreten, wir müssen unsere Fans mit offensivem, attraktivem Fußball begeistern – allemal, wenn wir wie zuletzt auf Gegner wie Island oder Liechtenstein treffen. Dann möchten die Fans schöne Ballstafetten sehen, Freude, Begeisterung und natürlich auch Tore. Uns wurde oft vorgeworfen, dass das Spiel der Mannschaft zu leidenschaftslos war, dass Identifikation fehlte. Das zu ändern, ist enorm wichtig, die Leidenschaft muss man im Spiel und auch bei allen Auftritten der Mannschaft außerhalb der Spiele spüren.

Der Start unter Flick war mit drei Siegen erfolgreich. Welche nächsten Schritte erwarten Sie nun?

Bierhoff: Wir wollen den Trend fortsetzen. Es sind keine leichten Spiele, aber wir wollen sechs Punkte holen und gegen Nordmazedonien die Niederlage aus dem März wettmachen. Wir müssen mutig spielen. Man hat gegen Liechtenstein gesehen, dass die Mannschaft Selbstvertrauen braucht. Sie hat sich schwergetan, weil die Tore nicht sofort fielen. In den anderen Spielen hat es die Mannschaft besser gemacht. Dieses Selbstverständnis wollen wir jetzt weiterentwickeln.

Hansi Flick ist nach außen ein sehr sichtbarer Bundestrainer, besucht viele Spiele. Wie wirkt er nach innen?

Bierhoff: So wie Hansi nach außen ist, ist er auch nach innen: sehr authentisch. Es war immer seine Stärke, dass er sehr natürlich und klar ist. Er hat klare Vorstellungen, was er will, er gibt die Richtung vor. Aber er nimmt alle mit. Er schafft es mit seiner positiven charmanten Art immer wieder, seine Gedanken Leuten zu vermitteln, um sie in seine Richtung zu stoßen – ohne dass sie das Gefühl haben, sie werden dorthin geprügelt.

Bringt er sich auch stärker in Themen wie Nachwuchsförderung und die Akademie ein?

Bierhoff: Auf jeden Fall. Hansi geht es natürlich am Anfang erstmal vornehmlich darum, dass die A-Nationalmannschaft in Fahrt kommt. Aber ich habe bei den Vertragsgesprächen schon angesprochen, dass ich einen aktiven Bundestrainer will. Als ehemaliger DFB-Sportdirektor hat er unsere Konzepte teilweise mit entworfen und entwickelt. Er kennt sich in den Themen aus und ist dazu sehr innovationsfreudig. Er greift vieles auf, er fragt nach, er arbeitet viel mit Daten. Er hat sich schon einige Male mit unseren Ausbildern und U-Nationaltrainern getroffen, um seine Wünsche und Gedanken einzubringen und wird das auch weiterhin tun.

DFB-Direktor Oliver Bierhoff während eines DFB-Trainingslagers 2021 in Österreich.
DFB-Direktor Oliver Bierhoff während eines DFB-Trainingslagers 2021 in Österreich. © dpa

War es dann ein Versäumnis, dass diese Verzahnung unter Joachim Löw nicht so da war?

Bierhoff: Es war eine andere Interpretation der Rolle. Jogi ist ein anderer Mensch. Wir haben immer wieder auch innerhalb des DFB diskutiert: Inwieweit ist ein Bundestrainer ein Projektleiter und inwieweit ist er so, wie man es aus der Historie von Sepp Herberger kennt, der Bücher geschrieben, die Ausbildung gemacht, und die Mannschaft trainiert hat. Seitdem ist aber alles komplexer und vielfältiger geworden. Jogi war nie so dominant, er hat gesagt: Ich sage doch einem Ausbilder nicht, was er zu tun hat, ich kümmere mich um die A-Nationalmannschaft.

Apropos Jogi: Es gab mal Gedanken, ihn jetzt in Hamburg zu verabschieden. Wieso kommt es noch nicht dazu?

Bierhoff: Wir wollten lieber noch etwas Zeit verstreichen lassen. Jetzt wird er im November in Wolfsburg verabschiedet – gemeinsam mit Andreas Köpke, Thomas Schneider, Urs Siegenthaler und Sepp Schmitt, der über Jahrzehnte unser Orthopäde war. Man merkt allen an, dass die Zeit beim DFB lang und intensiv war und dass man ihnen Zeit lassen muss, um etwas Abstand zu gewinnen.

Haben Sie noch Kontakt zu Löw?

Bierhoff: Natürlich. Nicht täglich oder wöchentlich, aber wir sprechen hin und wieder. Ich lasse ihm etwas Luft, Dinge sacken zu lassen. Diese Woche erst habe ich mit Andi Köpke und Thomas Schneider gesprochen. Mir ist wichtig, ihnen zu zeigen, dass sie auch in der Zeit unseres Neuanfangs nicht vergessen sind. Aber man merkt, dass alle damit beschäftigt sind, ihren neuen Weg zu finden. Es waren tolle Zeiten beim DFB, große Emotionen – da braucht jeder auch mindestens ein halbes Jahr Zeit zur Verarbeitung.

Flick hat nun zum zweiten Mal eine Mannschaft zusammengestellt. Müssen sich Spieler wie Mats Hummels, die erneut nicht dabei sind, Sorgen machen, ob sie weiter dazu gehören?

Bierhoff: Nein, überhaupt nicht. Hansi hält den Kontakt zu den Spielern, mit Mats Hummels hat er sehr offen und direkt gesprochen. Es gibt einige Spieler mit toller Qualität, die derzeit nicht dabei sind: Julian Draxler, Julian Brandt oder Mario Götze. Auch zu denen hat Hansi Kontakt, aber er muss eben einen gewissen Kreis auswählen. Und eine Stärke von Hansi ist, dass er Entscheidungen trifft, manchmal auch harte Entscheidungen. Wenn er das Gefühl hat, dass jemand nicht so weit ist, körperliche Probleme hat oder eine Pause braucht, spricht er das klar an. Aber die Chancen sind für jeden weiter da. Natürlich baust du als Trainer eine Mannschaft auf, du hast ein gewisses Konstrukt, du kennst deine Spieler. Aber es ist noch ein Jahr bis zum nächsten Turnier und es kommt doch häufig vor, dass sich Spieler kurzfristig besonders positiv entwickeln oder eine Schwächephase haben. Und deswegen ist bei der Nationalmannschaft, für die es kein Transferfenster gibt, die Tür immer bis zum Schluss offen.

DFB-Direktor Oliver Bierhoff.
DFB-Direktor Oliver Bierhoff. © getty Images

Inzwischen dominiert aber die Generation Kimmich/Goretzka. Was trauen Sie ihr zu?

Bierhoff: Den Jungs traue ich alles zu. Sie sind unglaublich hungrig, sie haben große Ambitionen. Man merkt, dass sie mit einer sehr erfolgreichen Nationalmannschaft aufgewachsen sind, unter anderem mit dem Sommermärchen 2006 und der Weltmeisterschaft 2014. Und sie haben den Anspruch, nun selbst so eine Geschichte zu erzählen. Deswegen hat es mich sehr gefreut, dass Manuel Neuer, der schon zur älteren Generation in der Mannschaft gehört, gesagt hat: Wir wollen Weltmeister werden.

Sie hätten sicher auch nichts dagegen...

Bierhoff: Auf keinen Fall. Aber es ist gleichzeitig auch schwierig, solche Aussagen zu tätigen, dann sagen viele gleich: Was will der denn nach drei mageren Jahren, der soll erstmal kleinere Brötchen backen. Aber auch Hansi hat gesagt, dass man als deutsche Nationalmannschaft immer einen hohen Anspruch hat. Italien war bei der EM nicht die Mannschaft mit den stärksten Einzelspielern. Das zeigt: In einem Turnier ist alles möglich. Wir haben große Qualität und deswegen sollten wir uns das Ziel setzen, bei der WM weit zu kommen – ohne zu behaupten, dass uns das selbstverständlich gelingen wird. Natürlich musst du von Spiel zu Spiel schauen, aber du willst als deutsche Nationalmannschaft immer bis zum Ende in jedem Turnier dabei sein.

Kann man sich uneingeschränkt auf ein Turnier in einem umstrittenen Land wie Katar freuen? Die Diskussionen werden die Mannschaft ja begleiten bis zum Turnier.

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Bierhoff: Uns haben vor Südafrika 2010 und Brasilien 2014 auch viele Diskussionen begleitet. Es ist aber auch so, dass diese Themen einen Tag nach dem Turnier sofort aus dem Blickfeld geraten. Nicht nur für den Fußball, für den gesamten Sport ist die Vergabe von Spielorten ein brisantes Thema. Denn Aspekte wie Menschenrechte und Nachhaltigkeit spielen eine immer größere Rolle. Das Thema wird uns weiter begleiten, deswegen machen wir uns auch regelmäßig schlau, etwa im Austausch mit Experten von Amnesty International. Und die bescheinigen Katar eine relativ positive Entwicklung. Entsprechend gehen wir das an: Wir werden nach Katar fahren, ein Boykott spielt für uns keine Rolle. Und dann werden wir uns überlegen, was wir vor Ort ansprechen und welche Aktivitäten wir starten, um weiter positiv einzuwirken.

Außerdem müssen sie die ganze Logistik rund um ein Turnier planen, etwa die Unterkunft. Haben Sie damit schon begonnen?

Bierhoff: Die Planungen laufen schon, wir werden vor Jahresende auch noch einmal nach Katar reisen. Ich war schon dort und habe mich umgeschaut. Vieles ist einfacher als in anderen Ländern: Wir haben etwa deutlich geringere Distanzen zwischen den Spielorten als in Südafrika oder Brasilien und man muss sich auch nicht die Frage stellen, ob man sein Quartier im heißen Norden oder im trockenen Süden aufschlägt. Außerdem ist die Zeit, die wir dort verbringen, viel knapper. Vom Aufwand her wird diese WM für uns einfacher zu organisieren sein.

Bis wann sollen die Planungen abgeschlossen sein?

Bierhoff: Optimalerweise haben wir im November die Qualifikation geschafft und können konkret planen. Und dann will ich in den ersten zwei bis drei Monaten des nächsten Jahres Klarheit haben, was die konkreten Pläne und Abläufe angeht.