Reykjavik. Eidur Gudjohnsen versucht im Interview zu erklären, warum Island mit 350.000 Einwohnern im Sport immer wieder für Furore sorgt.
Eidur Gudjohnsen (42) bittet um Entschuldigung. Das Abschlusstraining vor dem WM-Qualifikationsspiel gegen Deutschland (08.08., 20.45 Uhr/RTL) seiner Isländer habe eine halbe Stunde länger als geplant gedauert. Er müsse nur noch schnell was zu essen holen, dann sei der Co-Trainer der Nationalmannschaft, der gleichzeitig der beste isländische Fußballer aller Zeiten ist, für das Interview bereit.
Herr Gudjohnsen, können Sie sich noch an den 6. September vor genau 18 Jahren erinnern?
Eidur Gudjohnsen: (überlegt lange): Habe ich da mein erstes Länderspieltor geschossen?
Nicht wirklich. Sie standen beim 0:0 zwischen Island und Deutschland auf dem Platz…
Gudjohnsen: …stimmt. Für uns war das ein historisches Spiel. Wir haben sehr, sehr gut gespielt – und trotzdem wussten wir nach den 90 Minuten nicht wirklich, ob wir uns freuen sollten oder nicht. Einerseits haben wir dem Vize-Weltmeister ein Unentschieden abgerungen, das niemand vorher erwartet hatte. Andererseits haben wir mit diesem Remis die Chance verspielt, uns für das nächste Turnier zu qualifizieren. Trotzdem waren viele in der Kabine sehr glücklich. Ich war traurig.
Haben Sie mitbekommen, was dieses Unentschieden in Fußball-Deutschland ausgelöst hat?
Gudjohnsen: Nicht wirklich. Im Nachhinein habe ich davon gehört, dass der damalige Trainer Rudi Völler wütend gewesen sein soll. Ich kann die Frustration verstehen. Deutschland war und ist ein Fußball-Gigant. Ein 0:0 gegen einen Fußball-Zwerg, der wir damals noch waren, ist natürlich kein Erfolg. Aber: Es war nie einfach für Nationalmannschaften, nach Island zu kommen. Und es sollte auch nie einfach sein. Für uns ist jedes Spiel gegen eine Mannschaft wie Deutschland wie ein WM-Finale.
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Seinerzeit hatte Island noch nie bei einem großen Turnier teilgenommen – und hat auch nicht wirklich gewagt, davon zu träumen. Was ist zwischen damals und 2016 passiert, als Sie Ihre Länderspielkarriere mit der EM-Viertelfinalteilnahme ausklingen ließen?
Gudjohnsen: Wir hatten das historische Glück, dass eine goldene Generation gemeinsam aus der U21 zur A-Nationalmannschaft kam – und sich über viele Jahre fantastisch zusammen entwickeln konnten. 2016 hatten wir dann eine perfekte Mischung – und mit Lars Lagerbäck den perfekten Trainer. Er hat uns auf ein anderes Niveau gehoben.
Heute sind Sie der Co-Trainer der Nationalmannschaft und Island ist trotz der knapp verpassten EM-Qualifikation eine sehr respektable Nationalmannschaft. Wie machen Sie das mit gerade einmal 365.000 Einwohnern?
Gudjohnsen: Sport ist einfach wichtig für uns. Fußball, Handball – wir fangen sehr früh mit dem Sportmachen an. Und es gibt auch überall sehr gute Sportplätze. Früher mussten wir spätestens im Oktober aufhören. Jetzt haben wir moderne Hallen und können das ganze Jahr über Sport machen. Und man darf nicht vergessen: Island ist wie ein kleines Dorf. Wenn Eltern ihre Kinder zu den Spielen bringen müssen, dann fahren sie mal 20 Minuten in die eine und mal 20 Minuten in die andere Richtung. Das ist in Deutschland wahrscheinlich ein bisschen anders.
Spielt Sport in der isländischen Gesellschaft eine größere Rolle als bei anderen europäischen Nationen?
Gudjohnsen: Das kann schon sein. Es wurde viel Geld für den Sport ausgegeben – und die Erfolge im Fußball und im Handball geben uns recht. Sport gehört zur isländischen DNA. Wir sind eine Nation, die nie aufgibt – auch nicht bei widrigen Umständen. Es kann regnen, schneien, kalt sein – aber in Island ist man das alles gewohnt. Und das gilt auch für den Sport. Wir lassen uns von Widerstand nicht unterkriegen.
Derzeit gibt es für die Nationalmannschaft einige Widerstände. Nach dem EM-Aus droht nun auch vorzeitig das WM-Aus. Rumort es nach den Erfolgen der jüngeren Vergangenheit da nicht?
Gudjohnsen: Nein, das wäre auch unangemessen. Wir müssen doch realisieren, wer wir sind. Wir sind Island! Eine stolze Nation, aber eben auch ein kleines Dorf. 365.000 Einwohner! Da kann keiner erwarten, dass wir jedes Turnier die Weltelite an die Wand spielen – auch wenn wir in den vergangenen acht Jahren ziemlich verwöhnt wurden.
Auch Sie wurden in Ihrer Karriere ziemlich verwöhnt. Wie ist es Eidur Gudjohnsen auf Island zu sein?
Gudjohnsen: Entspannt. In Island macht man sich glücklicherweise keinen großen Kopf darüber, ob jemand ein Promi ist oder nicht. Ich fühle mich hier wohl.
Wie oft mussten Sie schon die Frage beantworten, ob es mehr Spaß bringt mit Messi oder dem echten Ronaldo zusammen zu spielen?
Gudjohnsen: (lacht) Es hat Spaß mit beiden gemacht. Ronaldo war ein 18 Jahre alter Teenager – aber er spielte wie ein Mann. Und Messi ist Messi. Schon damals wusste jeder, dass er der Beste der Besten werden würde. Und er wurde der beste Fußballer der Welt. Mit Ronaldinho durfte ich ja auch noch zusammenspielen. Auch das war nicht so schlecht…
Ihre Söhne treten in Ihre Fußstapfen. Ihr ältester Sohn spielt in Italien, Ihre beiden jüngeren Söhne bei Real Madrids Nachwuchs. Sie müssen vor Stolz platzen…
Gudjohnsen: Das tue ich. Ich bin sehr stolz auf meine Kinder. Aber nicht, weil sie Fußballprofis sind oder werden. Sondern weil sie meine Kinder sind.
Ihre Söhne Sveinn Aron und Andri Lucas haben Sie bei der Nationalmannschaft auch schon trainiert, Andri Lucas ist gegen Deutschland auch im Kader. Ist es schwierig, die eigenen Kinder zu trainieren?
Gudjohnsen: Jein. Hier bei der Nationalmannschaft bin ich ihr Trainer. Wenn wir mal eine Pause im Hotel haben, dann kann ich auch mal für 20 Minuten ihr Vater sein. Aber meine Jungs wissen das.
Haben Sie die beiden angerufen, als sie erstmals nominiert wurden?
Gudjohnsen: Arnar Vidarsson (der Cheftrainer, die Red.) und ich haben einen Deal: Wenn es um seine Familie geht, mache ich den Anruf. Wenn es um meine Söhne geht, dann macht er den Anruf. Sonst würde ich wahrscheinlich meine ganze Familie nominieren: Meine Söhne, meinen Vater und meine Tochter. Sie ist allerdings erst sechs Jahre alt.
Sie haben einst Geschichte geschrieben, weil Sie – als bis heute einziger Fußballprofi weltweit – bei einem Länderspiel für Ihren Vater eingewechselt wurden. Wie oft haben Sie Ihren Söhnen diese Geschichte erzählt?
Gudjohnsen: Es ist natürlich jedes Jahr am Jahrestag ein großes Thema. Und jedes Mal weiß ich nicht genau, ob ich darüber glücklich oder nicht sein soll. Denn ich hätte sehr gerne auch mit meinem Vater in der Nationalmannschaft zusammengespielt. Aber ich habe mir kurz danach das Bein gebrochen – und obwohl er noch zwei Jahre für die Nationalmannschaft gespielt hat, standen wir nie zusammen auf dem Platz.
Als Co-Trainer waren Sie aber in der vergangenen Woche dabei, als Ihr Sohn Andri Lucas sein erstes Länderspieltor zum 2:2 gegen Nord-Mazedonien geschossen hat…
Gudjohnsen: …Das war natürlich ein besonderer Moment – für ihn, für mich und auch für Island. Denn das Tor war ja wichtig. Ich hoffe, dass er nicht der letzte Gudjohnsen gewesen ist, der für Island spielt und trifft. (lacht)
Er war ein Jahr alt, als Sie 0:0 gegen Deutschland gespielt haben. Die Ausgangssituation ist ähnlich wie vor 18 Jahren: Ein Unentschieden wäre ein großer Erfolg für Island, würde aber die Chancen auf eine WM-Qualifikation endgültig zerstören. Würden Sie ein 0:0 diesmal trotzdem unterschreiben?
Gudjohnsen: Sofort. Wir sind ganz am Anfang, etwas Neues aufzubauen. Das dauert ein wenig. Ein erneutes 0:0 gegen Deutschland nehme ich da sofort.