Tokio. Nach insgesamt 338 Entscheidungen ist Olympia 2021 vorbei. Es waren außergewöhnliche Spiele. Was von Tokio im Gedächtnis bleibt.

Die Corona-Spiele von Tokio sind noch nicht beendet, da beginnen bereits inoffiziell die nächsten Sommerspiele. Im Big Sight, dem Messekomplex der japanischen Hauptstadt, wo während der Wettkämpfe regelmäßig die Mächtigsten der olympischen Bewegung über die Lage der Sportwelt berichten, sitzt nun Tony Estanguet. Der 43-Jährige ist dreimaliger Olympiasieger in Kanuslalom und Chef des Organisationskomitees für die Spiele 2024 in Paris. Mehr Symbolik für das, was die Fünf-Ringe-Bewegung gerade umtreibt und was ihr den Weg in die Zukunft weisen soll, geht zwei Tage vor der Abschlussfeier im größten der 16 Messesäle nicht: Fünf Leuchten unter der Decke werfen einen Lichtkegel auf, um ihn herum ist alles schwarz. Die Olympischen Spiele wollen aus der Dunkelheit geführt werden.

Nur noch drei Jahre, dann werden die Götter in Schweiß, die bis gestern in Tokios sengender Hitze Erfolgsgeschichten und Dramen erlebt haben, an der Seine um Gold, Silber und Bronze kämpfen. „Wir sind hier, um zu lernen“, sagt Estanguet, auf dessen weißem Polo das runde Emblem der 33. Sommerspiele eingestickt ist. Es ähnelt dem Logo Tokios – doch wollen die künftigen Gastgeber 2024 noch an diese Spiele erinnert werden?

Von einem Paradigmenwechsel ist auf dem Podium die Rede. Für gewöhnlich ist Olympia groß, laut – und wahnsinnig teuer. Mit vergleichsweise bescheidenen 7,5 Milliarden Euro soll die nächste Ausgabe in den Büchern stehen. Die Kosten in Tokio belaufen sich auf 25 Milliarden Euro. Dabei wird es nicht bleiben, steigende Ausgaben für die Austragung sind so sicher wie deutsches Gold im Dressurreiten. Doch das ist aktuell nicht Estanguets vorrangige Sorge: Die Corona-Pandemie, die Tokio gerade wieder fest im Griff hat, könnte sich auch noch auf Paris 2024 auswirken.

Olympia in Tokio war umstritten wie nie

„Die Lehre aus Tokio ist, dass die Spiele auch in dieser Situation machbar sind“, sagt der frühere Weltklassesportler, der mit einer Delegation in den nächsten Tage noch mit den Olympia-Gastgebern von Tokio Gespräche über Schutzvorkehrungen gegen das Virus führen will. „Wir schauen uns hier alles an“, erklärt Estanguet, „aber wir arbeiten immer noch vorrangig an unserem Plan A.“

Anstatt für einen Aufbruch in die Moderne steht Tokio 2020, unter dem das um ein Jahr verschobene Riesensportfest firmiert, für die umstrittensten Olympischen Spiele der Geschichte. „Ein großer Erfolg für Japan, das IOC und die gesamte Sportwelt“, sagt IOC-Präsident Thomas Bach (67) zum Abschluss und meint: Olympisches Ende ohne Schrecken.

Radprofi Simon Geschke war in Tokio in Quarantäne - hier ist er bei seiner Rückkehr nach Deutschland.
Radprofi Simon Geschke war in Tokio in Quarantäne - hier ist er bei seiner Rückkehr nach Deutschland. © dpa

42.500 Menschen – Sportler, Trainer, Betreuer, Offizielle, Reporter – sind für die 339 Entscheidungen aus der ganzen Welt eingereist. Die Blase, in die sie sich mit obsessiver Maskenpflicht und ständigen Speicheltests begeben mussten, hielt. Das räumt inzwischen sogar Shigeru Omi ein, olympiakritischer Pandemieberater der Regierung. Rund 400 Infizierte gab es in während der Spiele, die wenigsten davon waren Athleten wie der Berliner Radprofi Simon Geschke (35). Acht eigentlich unzumutbare Tage Quarantäne waren der Preis der Athleten für Olympia – Risiko und Chance zugleich.

Olympia 2021 als Spiele der Kompromisse

Ein Zeichen als Widerstand gegen Corona sind die vergangenen Tage trotzdem nicht. Am Abschlusswochenende wurden im Ballungsraum Tokio täglich rund 5000 Neuinfizierte gezählt, Experten fürchten alsbald eine Verdoppelung. In Krankenhäusern sollen nur noch Covid-Patienten mit schweren Symptomen aufgenommen werden; das Gesundheitssystem droht zu kollabieren.

Es waren die Spiele der Kompromisse. Für die Protagonisten in den Stadien und Hallen war es ein Segen, sie auszutragen. Auch wenn ohne Zuschauer bei den überwiegend herausragenden und teils natürlich wieder fragwürdigen Leistungen der Resonanzboden fehlte. Japans 27 Goldmedaillen verdrängten zwar zwischenzeitlich die große Skepsis im Land, können aber nicht ganz das fehlende Flair hinwegtäuschen. Bach hält dagegen: „Die Athleten haben den Spielen Seele gegeben.“

Der Bevölkerung haben die Wettkämpfe jedoch signalisiert, den eigenen Infektionsschutz auf die leichte Schulter nehmen zu können. Wenn die Jugend der Welt hier zu Gast ist, kann die Jugend Japans ebenso in den Ausgehvierteln Shibuya oder Roppongi feiern. Auch am Tag der Abschlussfeier stehen die Japaner noch Schlange vor dem Nationalstadion, um sich vor dem riesigen Olympia-Symbol fotografieren zu lassen. Das Zirpen der Zikaden übertönt die Unmutsbekundungen einzelner Olympia-Gegner. „Diese Behauptungen von indirekten Effekten sind ziemlich unbegründet“, sagt Bach und stützt sich auf Einschätzungen von Ministerpräsident Yoshihiro Suga.

Das Nationalstadion von Tokio - hier wird auch die Abschlussfeier stattfinden.
Das Nationalstadion von Tokio - hier wird auch die Abschlussfeier stattfinden. © dpa

Anders als geplant: Simone Biles ein Gesicht der Spiele

Natürlich wurden diese toporganisierten und von vielen freundlichen Helfern getragenen Spiele gnadenlos durchgepeitscht. Es geht um wahnsinnig viel Geld und für die Sportler um ein überschaubares Zeitfenster, in dem sie ihre maximale Wettbewerbsfähigkeit vergolden können. Das Vermächtnis Tokios ist aber ein anderes. Und es geht erfreulicherweise über das übliche mit Dopingbetrügern, korrumpierbaren Funktionäre und dahinsiechenden Ringe-Ruinen hinaus.

Die Geschichtenerzähler, ob in geschriebenen Worten oder per Bewegtbilder, haben die Erfolge und Emotionen in die Welt hinausgetragen. Spektakuläre Bilder sind entstanden, die die Helden Olympias nicht nur als schnell, stark oder zielgenau zeigen. Sie wirken auch immer politischer und wertvoller für die Gesellschaft.

Dabei ist es zynisch, dass eine Ausnahmeathletin wie Simone Biles (24) erst ihre Medaillenchancen absagen muss, um einen weltweiten Lovestorm zu generieren. Der US-Turnstar ist ganz anders als geplant das Gesicht dieser Spiele. Weil Simone Biles den Mut aufbrachte, ihre psychischen Probleme offenzulegen, rüttelte sie die Sportwelt auf und macht so anderen Menschen Hoffnung, die unter Depressionen leiden. Das ist ähnlich viel wert wie die entgangenen Goldmedaillen.

Trotz Missständen: Couragiertes Zeichen des IOC bleibt aus

Als erste Transgender-Frau betrat die neuseeländische Gewichtheberin Laurel Hubbard (43) in Tokio die olympische Bühne – ihr Start war umstritten und verlangt im Nachgang noch die Klärung, wann eine Athletin wirklich eine Frau ist. Auch die deutsche Hockey-Kapitänin Nike Lorenz (24) setzte sich für mehr Diversität ein und führte ihre Mannschaft mit einer Regenbogenbinde auf den Kunstrasen. US-Kugelstoßerin Raven Saunders (25) protestierte mit gekreuzten Unterarmen gegen homophobe und rassistische Diskriminierung.

Nahm als erste Transgender-Athletin an den Olympischen Spielen teil: Laurel Hubbard.
Nahm als erste Transgender-Athletin an den Olympischen Spielen teil: Laurel Hubbard. © AFP

Wie wünschenswert wären da couragierte Zeichen des IOC gewesen? Genauso wie im Fall der nach ihrer Trainerkritik beinahe entführten und zur Staatsfeindin erklärten belarussischen Sprinterin Kristina Timanowskaja, einem Geheimdienst-Epos wie aus der Feder von John le Carré. Aber mit autokratisch geführten Staaten zu kuscheln, ist und bleibt eine Lieblingsdisziplin von Thomas Bach.

Deutsche Athleten mit durchwachsener Bilanz

Doch selbst eine Distanzierung würde dem Ober-Olympier bei seinen Landsleuten kaum noch Punkte einbringen. Überhaupt ist es in Deutschland, das mit zehn goldenen unter den insgesamt nur 37 Medaillen in Tokio die schlechteste Bilanz seit 1992 einfuhr, um die Begeisterung für Olympia nicht gut bestellt. Rassistische Entgleisungen wie die von Patrick Moster, Sportdirektor beim Bund Deutscher Radfahrer, trüben das Bild zusätzlich. Die vereinende Wirkung Olympias geht verloren, es wird sich lieber aufgeregt und geärgert als über sportliche Erfolge gefreut. Als sich der Italiener Gianmarco Tamberi und der Katarer Mutaz Essa Barshim höchst emotional Gold im Hochsprung regelkonform teilten, war die Reaktion im Internet-Sportgerichtshof Twitter: Was ein Quatsch, wenn sich alle Finalisten demnächst einigen, gar nicht zu springen, kriegen dann alle Gold? Ob in Deutschland noch überbordende Euphorie entstünde, wenn gleichzeitig der schnellste Mann der Welt, der Fußball-Europameister und der Gewinner des Eurovision Song Contests aus schwarzrotgoldenen Landen kämen? Felice Italia, glückliches Italien.

Olympia kann weder das Klima retten noch die Pandemie besiegen. Sei es aber bloß über Bildschirme, trägt es existenzbedrohte Werte in die Gesellschaft: Rücksicht nehmen, Opfer bringen, Leidenschaft zeigen, sich für andere mitfreuen. Wer es damit mal versuchen möchte: In nur 180 Tagen beginnen in Peking die Olympischen Winterspiele.