Essen. Die Star-Turnerin Simone Biles aus den USA hat mentale Probleme als Grund für ihre Absage beim Einzel-Mehrkampf angegeben. Ein Kommentar
Was für ein Moment der Größe. US-Turnstar Simone Biles hat sich für die nächsten olympischen Wettbewerbe abgemeldet und zur Begründung ihre psychische Situation angeführt: Sie wolle sich erst einmal auf ihre mentale Verfassung konzentrieren, sagt die Sportlerin, die zuvor schon beim Mannschaftsmehrkampf ausgestiegen war.
Verzicht und Begründung sind kein Eingeständnis von Schwäche. Sie sind ein Zeichen der Stärke.
Sogar aus dem Weißen Haus bekommt Simone Biles Unterstützung
Auf den ersten Blick macht der Vorgang Mut. In den USA gab es viel Verständnis. Die Bedeutung der Turnerin lässt sich daran ermessen, dass sogar Jen Psaki, Sprecherin des Weißen Hauses (und damit des Präsidenten) und Michelle Obama, ehemalige First Lady der USA, Stellung beziehen. Die 24-jährige viermalige Olympiasiegerin ist eben nicht nur eine sehr gute Turnerin. Die Sportlerin ist für die US-Amerikaner Nationalheiligtum und in den Sozialen Medien gefühlt öffentliches Eigentum. Entsprechend hoch sind die Ansprüche an Perfektion.
Auch wegen der erwartbaren Debatten von notorisch unzufriedenen Nutzern in den Sozialen Netzwerken ist es gut, dass Meinungsführer von Michelle Obama bis New York Times sich schnell hinter Simone Biles gestellt haben. Wer in US-Zeitungen liest, der Rückzug sei „keine Feigheit“, die Sportlerin verdiene „keine Verachtung“, kann ahnen, wie unverhältnismäßig die Ansprüche sind.
Die Offenheit von Simone Biles macht Mut
Simone Biles’ Offenheit und viele Reaktionen darauf machen Mut. Ist also alles gut? Nur beinahe. Dass auch beim Sport psychische Probleme anerkannt, nicht mehr gleich als Defekt der gesamten Persönlichkeit gesehen werden, ist ebenso erfreulich wie überfällig. Dass aber Sportlerinnen und Sportler noch immer einen besonderen Rechtfertigungsdruck spüren, wenn sie erkennen und mitteilen, dass es gerade nicht geht, deutet einen langen Weg an. Auch bei Simone Biles ist automatisch die weltöffentliche Analysemaschine über vermeintliche Schwächen und strukturelle Blockaden angesprungen, wurden Traumata aus Kindheit und Jugend seziert und ausgebreitet. Erst wenn irgendwann wie bei einem Fußballer, der sich an den Muskel fasst, der Satz „Ich kann nicht mehr“ ausreicht, ist das Stigma begraben.