Tokio. Jamaikanerinnen dominieren das 100-m-Finale. Die Sprinterinnen zeigen deutlich, dass sie wenig mehr als die Landesfarben teilen.

Ein knapper Schulterklopfer. Nur kurz gemeinsam für die Fotografen posieren. Viel Liebe ist da nicht zwischen Elaine Thompson-Herah und Shelly-Ann Fraser-Pryce, die nun beide zweimalige Olympasiegerinnen über 100 Meter sind. Fraser-Pryce, 34 Jahre alt, Grande Dame des Sprints, hoch dekoriert und angereist als Weltjahresbeste und Topfavoritin, wollte ihre dritte Goldmedaille nach 2008 und 2012. Doch dann ist es am Samstagabend in Tokio ihre fünf Jahre jüngere Teamkollegin, schon wieder, die den Arm im Rausch des Triumphes in die Höhe streckt und wie 2016 in Rio siegt.

Ein rein jamaikanisches Podium

Die Uhr zeigt 10,61 Sekunden an. Für Fraser-Pryce stoppt sie nach 10,74 Sekunden. Shericka Jackson rennt in 10,76 Sekunden zu Bronze und komplettierte das rein jamaikanische Podium. Die deutsche Meisterin Alexandra Burghardt aus Burghausen und Tatjana Pinto aus Paderborn waren im Halbfinale ausgeschieden.

Frostige Stimmung im Stadion unter den Konkurrentinnen

Der erste Leichtathletik-Showdown der Corona-Spiele von Tokio ist also vorbei – und es herrscht frostige Stimmung. Nicht nur, weil die Zuschauer auf den Tribünen fehlen und mit ihnen der warme Applaus, der die Athletinnen in jedem anderen Jahr nach einem solchen Rennen umhüllt hätte. Sondern vor allem, weil die Erste und Zweite ganz offen zur Schau tragen, dass sie einander nicht mögen. Die Flaggen, die sie sich um die Schultern gelegt haben, mögen die gleichen sein. Vielmehr verbindet sie aber ganz offensichtlich nicht.

10,61 Sekunden – das bedeutet olympischen Rekord. Und ist noch mal drei Hundertstel schneller als die fabelhafte Zeit, mit der Fraser-Pryce sich im Juni zur weltweit zweitschnellsten Frau der Geschichte aufgeschwungen hatte. Nun ist nicht nur ihr Traum vom dritten Gold geplatzt, sondern sie ist auch die Position hinter der sagenumwobenen Amerikanerin Florence Griffith-Joyner, deren Weltrekord (10,49) seit 33 Jahren steht, wieder los. Elaine Thompson-Herah hat sich an ihr vorbeigedrängelt.

Fraser-Pryce zeigt den Ärger über eine verpasste Chance

Das nervt Fraser-Pryce, das macht sie deutlich. Mit Gesten im Stadion und mit Worten danach in den Katakomben, wo die Journalisten sie nach ihrem Befinden befragen: „Habt ihr schon mal etwas verloren? Dann wisst ihr ja, wie das ist. Man ist enttäuscht. Und das habe ich gezeigt. Ich war immer eine ehrliche Athletin. Das war nicht das Rennen, das ich laufen wollte.“

Das Rennen, das die Mutter eines 2017 geborenen Sohnes laufen wollte, sollte eines für die Geschichtsbücher sein. Endlich hatte sie die Chance, dem Schatten des Usain Bolt zu entkommen. Der 100-Meter-Weltrekordler und dreimalige Doppel-Olympiasieger über 100 und 200 Meter verstellte seiner erfolgreichen Teamkollegin fast ihre gesamte bisherige Karriere lang das Scheinwerferlicht. Nun ist er in Rente. Nun ist Raum für neue Stars. Oder auch alte in neuem Glanz. Doch Fraser-Pryce verpasste es, als erste Athletin überhaupt zum dritten Mal in einer Einzeldisziplin Gold zu gewinnen.

Und einmal mehr sind da die Schatten der Zweifel, denen die Sprinterinnen um so weniger entkommen, je schneller sie dem Licht entgegenstreben. Schon vor diesen Olympischen Spielen in Tokio waren sie so schnell unterwegs wie selten. Fraser-Pryce mit ihren 10,63 Sekunden. Mit etwas zu viel Windunterstützung rannte auch die Nigerianerin Blessing Okagbare 10,63 Sekunden. Und die Amerikanerin Sha’Carri Richardson kam mit etwas zu viel Schub auf 10,64 Sekunden.

Wieder kommen berechtigte Zweifel auf

Weil sie alle so gut trainiert haben in den einsamen Corona-Monaten? Oder weil die Schuhtechnologie tatsächlich so rasant voranschreitet, dass die Athleten quasi von ganz allein immer schneller werden? Oder spielt vielleicht doch eine Rolle, dass ein Lockdown nach dem anderen die Arbeit der Dopingkontrolleure weltweit beeinträchtigt hat? Elaine Thompson-Herah ignoriert am Samstag derlei Gedanken und tut ihre Überzeugung kund, dass der Fabel-Weltrekord von Griffith-Joyner irgendwann fallen werde: „Ich habe das Signal gesendet, dass ich senden wollte. Ich habe gezeigt, dass alles möglich ist.“

Und Blessing Okagbare aus Nigeria hat gezeigt, dass die Schatten der Zweifel berechtigt sind. Sie wurde am Samstag von der Athletics Integrity Unit, der Geheimpolizei des Leichtathletik-Weltverbandes, aus dem Wettbewerb genommen, weil sie positiv auf Wachstumshormon getestet worden war. Ihren Vorlauf hatte sie noch gewonnen. Sha’Carri Richardson durfte gar nicht erst antreten in Tokio, sie wurde im Vorfeld wegen Marihuana-Konsums für einen Monat gesperrt. Und löste bei den drei schnellen Jamaikanerinnen ungewohnte Einigkeit aus. Ob die Strafe angemessen sei? „No comment. No comment. No comment.“ Kein Kommentar.

Der Idee, es in drei Jahren bei den Spielen in Paris noch einmal mit Thompson-Herah aufzunehmen, erteilte Fraser-Pryce dann noch eine Absage. Ein Duell um das dritte Gold wird es nicht geben. Das sei ihr letzter olympischer Auftritt, betonte sie. Zu Ende ist er noch nicht. Mit der Staffel kann die 34-Jährige noch ihre achte Olympia-Medaille gewinnen. Liebhaben muss man sich ja nicht, um einander den Stab zu übergeben.