Tokio. Offiziell ist die Sportnation wegen des Dopingskandals von Olympia verbannt. Doch Ausnahmen und Tricks machen es möglich, dass sie präsent ist.

Für ein Land, das offiziell verbannt ist von den Olympischen Spielen, ist Russland doch ganz schön präsent.

Als dem Schwimmer Jewgeni Rylow für seinen Olympiasieg über 100 Meter Rücken am Dienstag gehuldigt wird, verwandelt sich das Tokyo Aquatics Centre mit seinen steilen Zuschauerrängen in ein Opernhaus. Es ertönt Pjotr Iljitsch Tschaikowskis erstes Klavierkonzert. Zählte nicht schon Russlands Nationalhymne zu den schönsten der Welt, dieses wunderschöne Werk des berühmtesten Komponisten des Landes hätte auch eine Goldmedaille verdient.

Und dann eben läuft Tschaikowski

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Rylow, 24 Jahre jung, trägt bei der Siegerehrung seinen Trainingsanzug in den Farben Weiß, Blau und Rot. Ihm zu Ehren wird eine Flagge gehisst. Es darf nur nicht die seiner Heimat sein. Aber auf der vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) genehmigten Fahne mit dem Logo des Internationalen Olympischen Komitees sind immerhin die Flammen in Weiß, Blau und Rot gehalten. Und dann eben läuft Tschaikowski.

Überall, wo Russen sind, ist’s Weiß, Blau und Rot – denn das sind ihre Farben. Dabei ist die gesamte Abordnung eigentlich zu Fahnen-, Kleider- und Hymnenneutralität gezwungen. Rylow freundet sich mit dem Kompromiss an: „Vielleicht ist das besser, als wenn wir alle hier gar nicht starten dürften.“

2019 für vier Jahre gesperrt

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Die 335 Athletinnen und Athleten aus dem Putin-Reich sind Part der Wettkämpfe in Japan, sie firmieren nur fürs Protokoll als Vertreter des ROC (Russian Olympic Committee) – das war die unfassbar strenge IOC-Vorgabe für das nach all den Skandalen gesperrte Nationale Olympische Komitee Russlands (NOK). In Tokio wird das jedoch nicht konsequent gehandhabt. Das Wörtchen Russland darf zwar ausgeschrieben auf Bildschirmen in den Arenen nicht auftauchen; gleichwohl ist bei den Zeremonien über die Lautsprecher der Hinweis auf die Herkunft des Medaillengewinners erlaubt. Absurd, aber IOC-Sprecher Mark Adams sagt: „Wir sind damit einverstanden.“

Es ist mal wieder ein Taschenspielertrick, mit dem der Sportwelt vorgegaukelt wird, es würde gegen Doper hart vorgegangen. Nach der Aufklärungsarbeit der mutigen Whistleblower Julia und Witali Stepanowa (der Mann der Leichtathletin arbeitete für die russische Anti-Doping-Agentur Rusada) sowie Grigori Rodtschenkow (früherer Leiter des Moskauer Dopinglabors) sperrte die Welt-Anti-Doping-Agentur Wada das russische NOK im Dezember 2019 für vier Jahre. Systematisches Doping mit mehr als 1000 Beteiligten, Vertuschen von Positivproben, Manipulation der Datenbanken – alles staatlich gedeckt von Mütterchen Russland.

Enttäuscht vom Cas

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Der Internationale Sportgerichtshof Cas kassierte das Urteil, verkürzte die Sperre. Bis Ende 2022 dürfen an den Skandalen unbeteiligte und frei von Dopingsünden bestätigte Sportlerinnen und Sportler unter dem Deckmäntelchen der Neutralität an Olympischen Spielen teilnehmen. Das IOC – noch nie darauf erpicht, Russland hart zu sanktionieren – weichte die Identifikationsvorschriften aus dem Urteil der Wada, der Welt-Anti-Doping-Agentur, für die Tokio-Spiele weiter auf. „Wir sind weiterhin enttäuscht, dass der Cas die Strafen gesenkt hat und er den russischen Athleten erlaubt, mit den Farben der Flagge in ihren Anzügen anzutreten“, sagt Wada-Chef Witold Banka.

Weiß, Rot, Blau überall; letztlich zog bei der Eröffnungsfeier zwischen San Marino und Sierra Leone eine größere russische Delegation ein, als es sie 2016 in Rio ohne olympische Verbannung gab. Die Restriktionen sind ein Witz. Oder wie ein russischer Journalist beim Schwimmen sagt: „Sperre? Welche Sperre?“ Russlands NOK nimmt sie offenbar auch nicht zu ernst und wollte Macht demonstrieren. Statt Tschaikowski wollten die Verantwortlichen lieber „Katjuscha“ bei Triumphen ihrer Sportler hören. Das martialische Marschlied aus dem 2. Weltkrieg war dann selbst dem IOC zu unpassend.

Weiß-Blau-Rot aus Armbändern

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Russland will Russland sein. Beim Volleyball schmettern die Russen komplett in rot gekleidet in der Ariake Arena, Karen Chatschanow kombiniert im Tennis Park rote Hose zu blauem Shirt und weißer Mütze, Beachvolleyballer Ilja Leschukow trägt im Shiokaze Park farblich abgestimmte Armbänder zufällig so, dass sie von oben nach unten die russische Flagge ergeben. Alena Tiron, Kapitänin der Rugbymannschaft, lässt an keinem Reportermikro ihr Herkunftsland unerwähnt: „Wenn unsere Flagge nicht erlaubt ist, stellen wir selbst unsere Flagge dar. Wir wissen, für welches Land wir stehen.“ Im Medaillenspiegel der Tokio-Spiele sind die Sportler, die sich hinter dem Akronym ROC verbergen, in der Spitzengruppe zu finden. Diese vermeintliche Anonymität müssen sie auch noch bei den kommenden Winterspielen im Februar 2022 in Peking ertragen.

Und doch ist aus russischer Sicht nicht alles weißblaurot. Am Freitag, nach seinem Erfolg über 200 Meter Rücken im Becken, sieht sich Doppel-Olympiasieger Rylow Dopingvorwürfe ausgesetzt. „Ich schwimme in einem Rennen, das wahrscheinlich nicht sauber ist“, sagt der US-Amerikaner Ryan Murphy. Rylow reagiert überrascht: „Ich bin immer sauber gewesen, ich wurde immer getestet – ich bin für sauberen Sport.“ Man würde ihm beinahe gerne glauben.