Tokio. Ein Streifzug durch Tokio offenbart vor der Eröffnungsfeier Unsicherheit und rücksichtslos durchgepeitschte Olympische Spiele.
Die Sonne ist gegangen, aber der Stau ist geblieben. Auf Shibujas Prachtstraße, wo eben noch Passantinnen ihre Augen hinter panoramafenstergroßen Brillen versteckten, steuert nun eine Blechlawine in den Abend hinein und auf das Nationalstadium Tokios zu. Manche Autos sehen so aus, als würden sie gleich wie in Comic-Verfilmungen zu Robotern mit erstaunlichen Kräften mutieren.
Es gibt ja tatsächlich einen Schurken zu bekämpfen.
Angst vor den Mutanten in Tokio
Yuki, der 58 Jahre alte Taxifahrer, hat keine Angst vor dem Bösen namens Corona. Sagt er jedenfalls. In Japans Hauptstadt ist die Zahl der Neuinfektionen auf den höchsten Stand seit Januar angestiegen. Einen Großteil der Bevölkerung fürchtet, die Olympischen Spiele, die an diesem Freitag (ab 12.10 Uhr/ZDF) im Nationalstadion im Beisein von Kaiser Naruhito eröffnet werden, könnten mit ihren Tausenden Besuchern aus 200 Ländern Mutanten ins Land tragen. „Wir Japaner sind stolz darauf, Olympia austragen zu dürfen“, sagt Yuki trotzig und hält den Wagen vor einer bewachten Absperrung am Stadion an. 60.000 Sicherheitskräfte sollen bei diesen Sommerspielen für Sicherheit sorgen, damit ließe sich Liechtenstein verteidigen. Doch gegen das Virus sind auch sie machtlos.
Der Zugang zum Nationalstadion ist untersagt. Unweit davon befindet sich Japans Olympia-Museum. Eine kleine Statue von Baron Pierre de Coubertin, dem Erfinder der Spiele, schmückt den Eingang. Dass Thomas Bach (67) künftig daneben als Büste residiert, erscheint noch unrealistisch. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) und sein deutscher Präsident sind dennoch angetreten, um der Welt zu beweisen: Die Pandemie ist beherrschbar. Das ist eine schöne Vision. Aber wie immer ist alles Schöne auch äußerst fragil.
An Bildern von perfekt inszenierten Wettkämpfen wird es nicht mangeln.
Die Olympia-Macher werden alles tun, um diese Zerbrechlichkeit zu verstecken. Olympia, das sind Bilder-Spiele. Wenn sich die so skeptischen, aber nur zu 20 Prozent geimpften Japaner zwischen Museum und Stadion vor den fünf ineinander verschlungenen bunten Ringen fotografieren lassen, sind das Eindrücke einer heilen Welt, die verschickt werden sollen. Auch an perfekt inszenierten Wettkämpfen wird es im Fernsehen nicht mangeln.
Gäbe es nicht an vereinzelten Stellen in der Stadt diese fünf Ringe, käme man jedoch zu dem Entschluss: Olympia ist weit weg von Tokio. Die Stadt hat sich für das größte Sportfest der Welt kaum geschminkt, nirgendwo Fahnen oder Plakate. In Ginza, dem Businessviertel der Metropole, herrscht am Tag vor der Eröffnung normales geschäftiges Treiben. Männer tragen hier dunkle Anzughosen mit hellen kurzärmeligen Hemden, Frauen schützen sich mit Schirmen vor der gleißenden Sonne.
Zwischenmenschliche Brandbeschleuniger
Die hohe Feuchtigkeit in der Luft wirkt zwischenmenschlich manchmal eher wie ein Brandbeschleuniger als ein Feuerlöscher: Wer an den Haltestationen des olympischen Bus-Shuttle-Systems als einer der von weither angereisten Gäste ausgemacht wird, muss damit rechnen, auf einer abschüssigen Straße von den entspannt nach unten laufenden Passanten grimmig gemieden zu werden. Es gibt aber auch die bergauf strampelnden Radfahrer, die unter der Maske freundlich lächeln.
Die bunte Party der Jugend der Welt fällt aus
In Tokio wird es keine bunte Party der Jugend der Welt geben, der Jugend der Welt wurde die Einreise verwehrt. Vor der Ariake Arena, wo unweit des Hafens die Volleyballer schmettern werden, erinnern Kassenhäuschen daran, dass Zuschauer vorgesehen waren. Doch das Virus hat diesen Plan und damit die Seele der Spiele aufgefressen; ausgespuckt wurden leere Tribünen. Der australischen Softballerin Stacey Porter ist die Atmosphäre beim Olympia-Comeback ihres Sports unwichtig. „Wir haben 13 Jahre gewartet“, sagte sie nach dem 1:8 gegen das Gastgeberland, „deshalb gehen wir da raus und spielen. Egal, was passiert.“
Ein rücksichtslos durchgepeitschter Traum
Porters Satz ist Ausdruck eines erfüllten Sportlerinnen-Traums, er offenbart aber auch Rücksichtslosigkeit. Doch damit ist sie nicht alleine: Für Bach gilt es, Tokio 2020 in 2021 gnadenlos durchziehen. Denn Olympia sind auch Macht-Spiele. Trotz Warnungen von Gesundheitsexperten, trotz steigender Infektionszahlen halten die Regierung und das Organisationskomitee an der Austragung fest. Bach würde ihnen dafür am liebsten noch vor dem Startschuss das erste Gold verleihen: Milliarden Menschen würden in den nächsten zwei Wochen am Fernseher „bewundern, was die Japaner geleistet haben“.
Der Einfluss des Fecht-Olympiasiegers von 1976 erscheint grenzenlos, Andersdenkende sind beim IOC so rar wie deutsche Goldmedaillen im 100-Metee-Sprint. Bei der Session in den Tagen vor der Eröffnungsfeier pappte Bach dem olympischen Motto „Schneller, höher, stärker“ noch den Zusatz „gemeinsam“ an. Hat jemand schon mal versucht, dem berühmten Smartphone-Hersteller mit dem Apfel auch eine Birne ins Logo zu designen? Die Botschaft, die davon im schmucken Fünf-Sterne-Hotel Okura ausging: Bach schafft alles, auch Tokio.
Spiele im Ausnahmezustand
Zuallerletzt sind es die Olympia-Corona-Spiele. Mit ungewissem Ausgang. Das IOC-Playbook dient als nicht zu missachtende Gebrauchsanleitung für alle Beteiligten: viele Tests, genügend Abstand, kein Risiko. Trotzdem wird es in den nächsten Tagen weitere Infektionen geben, das lässt sich nicht vermeiden. Spannend wird nur sein, wie wird damit umgegangen, wenn es in das Umfeld von Stars wie Tennis-Ikone Novak Djokovic oder Turn-Königin Simone Biles hereinreicht.
Im Olympischen Dorf jedenfalls werden die Athleten separiert wie Infizierte, das gewohnte Miteinander ist stark eingeschränkt. Wobei: Sie haben sich bei vergangenen Ausgaben der Spiele auch schon in eine Parallelwelt zurückgezogen. Die US-Basketballer verbrachten ihre Olympia-Geschäftsreise schon auf einer Luxus-Yacht. Aber selbst ohne Corona würden sich dieser Tage gar unbekannte Teilnehmer wie Gewichtheber Tanumafili Jungblut aus Amerikanisch-Samoa oder Schwimmerin Donata Katai aus Simbabwe nicht mehr ins Vergnügungsviertel Roppongi begeben.
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Und ein anderer kultureller Austausch wird auch ausgebremst: Die 160.000 Kondome, 14 vorgesehen pro Person, werden erst vor der unmittelbaren Abreise an die Sportler verteilt.
„Olympia wird den Menschen Vertrauen in die Zukunft geben“, sagte Thomas Bach dieser Tage. Taxifahrer Yuki lächelt milde, als er den Satz noch mal hört. Er lässt den Motor an und fährt los. Wird es dunkel, leeren sich Tokios Straßen im Ausnahmezustand rasant. Olympia muss trotzdem aufpassen, nicht unter die Räder zu kommen.