Rom/Manchester. Mit seinen zwei Toren gegen die Ukraine führte Harry Kane England ins EM-Halbfinale. Die Zweifel der Vorrunde sind verstummt.

Am Ende des EM-Viertelfinals zwischen England und der Ukraine gab es einen herzlichen Austausch zwischen zwei großen Stürmern zu besichtigen. Dem einen gehörte die Vergangenheit, dem anderen gehört die Gegenwart. Andrij Schewtschenko, ukrainischer Rekordtorschütze und in der Karriere nach der Karriere Nationaltrainer, traf an der Seitenlinie des Stadio Olimpico von Rom auf Harry Kane, der mit seinen beiden Treffern beim 4:0-Erfolg entscheidenden Anteil daran hatte, dass England im Halbfinale am Mittwoch gegen Dänemark steht und mehr denn je vom ersten Titel seit der WM 1966 träumt. Schewtschenko und Kane, Stürmer-Vergangenheit und Stürmer-Gegenwart, umarmten sich und sprachen ein paar Worte.

Der Inhalt der Konversation ist nicht bekannt, doch es lässt sich vermuten, dass Schewtschenko seine Glückwünsche überbrachte – dazu, dass Kane, 27, es wieder einmal allen gezeigt hatte. Englands Kapitän hatte ja schwer in der Kritik gestanden nach 463 Minuten ohne Tor und einer erschütternd schwachen EM-Vorrunde. Der Vortrag seiner Mannschaft lief an ihm vorbei, er wirkte ermattet und ohne Selbstvertrauen. Erst im letzten Gruppenspiel gegen Tschechien setzte der Premier-League-Torschützenkönig von Tottenham Hotspur den ersten Schuss aufs Ziel bei dem Turnier ab. Englands Öffentlichkeit diskutierte panisch die möglichen Gründe für das Formtief ihres wichtigsten Spielers.

Dann kam das Achtelfinale gegen Deutschland, die 86. Minute. Nach einer Flanke von Jack Grealish köpfte Kane zum 2:0-Endstand ein und durchbrach seine Blockade. Ab sofort werde der echte, der gnadenlose Harry Kane zu sehen sein, warnte Trainer Gareth Southgate, und er hatte Recht. Das war beim erstaunlich souveränen Erfolg über die Ukraine zu erleben. In der vierten Minute verwertete Kane ein Zuspiel von Raheem Sterling per Grätsche zum 1:0, in der 50. Minute traf er per Kopf zum 3:0. Beide Treffer waren echte Mittelstürmer-Tore.

"Wie konnten wir je an Kane zweifeln?"

Fast hätte Kane ein drittes Mal getroffen, nämlich nach einer Stunde, als er einen schwach geklärten Ball aus 16 Metern volley nahm. Auch wenn Ukraine-Torwart Georgij Bushchan parierte – die Szene zeigte perfekt, dass Kane das Selbstvertrauen, den Mut zum Risiko, die Schärfe und die Entschlossenheit zurück hat, die das englische Fußball-Volk vermisst hatte in der Vorrunde. “Wie konnten wir je an Kane zweifeln?”, fragte die “Times” voller Reue. Der Stürmer selbst blieb bescheiden, so, wie es seine Art ist: “Es ist immer großartig, der Mannschaft zu helfen.”

Harry Kane (links) und Englands Nationaltrainer Gareth Southgate.
Harry Kane (links) und Englands Nationaltrainer Gareth Southgate. © AFP

Radikaler Teamgeist ist eine Stärke Englands unter Southgate. Der Trainer lobte nach dem 4:0 gegen die Ukraine ausdrücklich jene Profis, die bislang nicht zum Einsatz kamen bei der EM. Ohne sie sei der Erfolg unmöglich. Doch es kommt bei Turnieren eben darauf an, dass die Schlüsselspieler in den entscheidenden Momenten entscheidende Impulse setzen – und das tut Kane. Mit insgesamt neun Toren bei Welt- und Europameisterschaften liegt er nur noch eine Treffer hinter Gary Lineker, Englands Rekordhalter bei Großveranstaltungen.

Shearer über Harry Kane: "Jetzt ist er der König der Welt"

Dieser wäre nicht traurig, wenn er die Bestmarke in Kürze verlieren würde. “Ich hoffe, Harry zieht an mir vorbei”, sagte Lineker nach dem Ukraine-Spiel in seiner Funktion als BBC-Moderator. Einer der Studio-Gäste war Alan Shearer, der sich damit auskennt, von der Öffentlichkeit angezweifelt zu werden. Vor der Heim-EM 1996 hatte er zwölf Spiele nicht getroffen, wurde dann aber bester Schütze des Turniers und verhalf England bis ins Elfmeterschießen im Halbfinale gegen Deutschland, wo bekanntlich Schluss war. “Tore zu schießen, ist eine Obsession. Wenn man nicht trifft, kann man nicht schlafen. Man macht sich die ganze Zeit Sorgen, wann die nächste Chance kommt”, berichtete Shearer in der BBC: “Unser Land erwartet von Harry Kane, dass er liefert. Wenn es nicht passiert, ist es nicht schön. Aber jetzt ist er der König der Welt.”

Mit seiner persönlichen Wende besiegt Kane die eigene Vergangenheit. Bei der WM 2018 wurde er zwar Torschützenkönig, allerdings gelangen ihm fünf seiner sechs Treffer in der Vorrunde. In der K.O.-Phase wurde er immer schwächer und tauchte beim Halbfinal-Aus gegen Kroatien ab, zum Verdruss des englischen Publikums. Bei der EM ist es umgekehrt: Nach schwacher Vorrunde kommt er im richtigen Moment in Form. Und ein Blick in die Statistik macht den Engländern Hoffnung, dass sie sich weiter auf ihren Talisman verlassen können. “Seine Tore kommen normalerweise in Schüben”, schrieb der “Telegraph” unter Verweis darauf, dass Kane in der Nationalmannschaft schon vier Mal in drei oder mehr Spielen nacheinander getroffen habe.

Drei oder mehr Spiele nacheinander, das würde bedeuten, dass auch im Halbfinale gegen Dänemark mit einem Kane-Tor zu rechnen ist – und vielleicht sogar in einem möglichen Endspiel.