Mûr-de-Bretagne. Der Auftakt der Frankreich-Rundfahrt am Wochenende wurde von schweren Stürzen überschattet. Hätten sie verhindert werden können?
Es war ein Peloton des Leidens, das am Sonntag die zweite Etappe der Tour de France in Angriff nahm. Tony Martins Arm war beim Einrollen auf der Strandpromenade von Perros-Guirec in der Bretagne dick einbandagiert. Schürfwunden überzogen die Haut, die bei Wilco Kelderman, dem Leitwolf des deutschen Rennstalls Bora- hansgrohe unter dem Trikot hervorschaute. Ex-Weltmeister Philippe Gilbert ließ sich unterwegs vom Rennarzt mitten auf der Fahrt die Pflaster an der Hand richten.
Durchhalten war das Ziel auf dieser Etappe, die nach 183,5 Kilometern von Perros-Guirec nach Mur-de-Bretagne der 26-jährige Niederländer Mathieu van der Poel (Alpecin Fenix) gewann, der dem Auftaktsieger, dem französischen Weltmeister Julian Alaphilippe vom Team Deceuninck-Quick Step, das Gelbe Trikot entriss.
Tour de France: „Ein regelrechtes Blutbad“
Etwa die Hälfte des Pelotons machte auf der ersten Etappe am Samstag zwischen Brest und Landernau schmerzhafte Berührung mit dem Asphalt. „Es war ein regelrechtes Blutbad. 60, 70 Fahrer lagen auf dem Boden, ein schlimmes Bild“, sagte Chris Froome. Der viermalige britische Tour-Sieger war mittendrin, musste zum Röntgen sogar ins Krankenhaus. Am Ende kam Entwarnung: nichts gebrochen.
Härter traf es einige Kollegen. Der Spanier Marc Soler gab wegen mehrerer Knochenbrüche auf, der Franzose Cyril Lemoine wurde wegen Rippenbrüchen und Kopfwunden aus dem Rennen genommen. Ebenfalls aufgeben mussten der Litauer Ignatas Konovalovas wegen eines Schädeltraumas und der Freiburger Jasha Sütterlin wegen schwerer Prellungen am Handgelenk.
Zuschauern löst Massensturz aus
„Mindestens einen der beiden Stürze hätte man verhindern können“, sagte André Greipel aus Rostock dieser Zeitung. Der Hürther, der selbst zweimal Bodenkontakt hatte, bezog sich auf den ersten Massensturz, etwa 44 Kilometer vor dem Ziel. Der war von einer Zuschauerin ausgelöst worden, die mit einem Pappschild mitten in das Peloton hineinwedelte. Tony Martin aus Kreuzlingen, der auf der rechten Seite der Straße fuhr, konnte nicht mehr ausweichen. Und mit ihm gingen mehrere Dutzend Kollegen zu Boden. „Das ist eine Rennsituation, wie sie eigentlich die ganze Zeit an der Seite stattfindet. Im Normalfall muss man davon ausgehen, dass die Zuschauer dann zur Seite gehen. Wir können schließlich nicht jedes Mal einen Bogen fahren“, kommentierte er als Sturz-Opfer Nummer eins später die Szene.
Diese Zuschauerin ging aber nicht zurück. Im Gegenteil. Ihre Augen waren nur auf die vorbeifahrende Fernsehkamera gerichtet. So wurde sie zum Mega-Hindernis. Auf ihr Schild hatte sie geschrieben: „Allez Opi Omi!“.
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Als die Polizei an Ort und Stelle eintraf, war sie offenbar schon weg. Die Gendarmerie Brest löste eine Fahndung nach ihr aus. Tour-Organisator ASO stellte Anzeige. Das bestätigte ein Sprecher dieser Zeitung. Vielleicht geben sich ja wenigstens die Großeltern, die so prominent gegrüßt wurden, zu erkennen und erteilen der Enkelin eine Lektion in Verantwortungsbewusstsein.
Zweiter Sturz bei Tour de France noch schlimmer
Diese Frau zur allein Schuldigen an allen Verletzungen zu machen, wäre aber überzogen. Die schwereren Verletzungen ereigneten sich beim zweiten Massensturz, keine zehn Kilometer vor dem Ziel. „Das war eine Rennsituation, in der sich alle mit ihren Kapitänen vorne platzieren. Und wenn dann in dieser Enge bei Tempo 75 bis 80 solch ein Sturz mitten im Feld passiert, hat das eben solche Folgen“, beschreibt Altmeister André Greipel die Dynamik.
Auf diesem Ohr sind die Veranstalter und der Radsportweltverband UCI aber taub. Deshalb sind die nächsten Stürze bei der Rennplanung schon fest einzukalkulieren. „Die Statistik besagt, dass jeder Rennfahrer mehr als zweimal bei einer Tour de France stürzt“, sagt Christopher Edler, Teamarzt bei Bora-hansgrohe.
Aufatmen nach der zweiten Etappe
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Nach dem Ende der zweiten Etappe mit dem Sieg von Mathieu van der Poel vor Titelverteidiger Tadej Pogacar (UAE Team Emirates) und dessem slowenischen Landsmann, dem Vorjahreszweiten Primoz Roglic (Jumbo-Visma), blieb ein großes Aufatmen: dass nicht erneut Haut und Blut auf der Straße gelassen wurden.