Herzogenaurach. Vor wenigen Monaten spielte Jamal Musiala noch für Englands U21. Jetzt ist er Deutschland Hoffnungsträger - gegen seine alte Heimat.
Am Freitag war tatsächlich frei. Bundestrainer Joachim Löw hatte den Nationalspielern im Europameisterschafts-Quartier in Herzogenaurach ein wenig Erholung spendiert – es sind ja sechs Tage Zeit zwischen dem Vorrundenspiel gegen Ungarn (2:2) und dem Europameisterschafts-Achtelfinale gegen England am Dienstag (18 Uhr/ARD und Magenta TV). Jamal Musiala hat vor ein paar Tagen verraten, wie er diese Zeit gerne nutzt: Gesellschaftsspiele spielt er gerne, Playstation auch. „Und ich chille einfach.“
Es gibt nicht viele 18-Jährige, deren Freizeitverhalten großes öffentliches Interesse wecken. Aber Musiala ist ja nicht irgendein 18-Jähriger. Er ist Nationalspieler, EM-Teilnehmer, jüngster Spieler, der je bei einem Turnier für Deutschland spielte – und ein entscheidender Faktor dafür, dass sich die Nationalspieler überhaupt noch in Herzogenaurach sind.
DFB-Hoffnung Jamal Musiala als Wanderer zwischen den Welten
In den ersten beiden Gruppenspielen hatte er noch auf der Tribüne gesessen. Gegen Ungarn aber, als das frühe Aus drohte, als Bundestrainer Joachim Löw nach und nach all seine Offensivspieler auf den Platz warf – da kam in der 82. Minute auch dieser schmächtige Junge. Und er brauchte nur wenige Minuten, um das zu rechtfertigen: Mit einer geschmeidigen Bewegung ließ er links gleich drei Gegenspieler ins Leere laufen und spielte dann überlegt in den Strafraum zu Goretzka. Sekunden später machte der das erlösende 2:2 (Hier geht es zur Einzelkritik zu Deutschland - Ungarn).
Das Wort „ausgerechnet“ wird im Sportjournalismus oft überstrapaziert. Dass aber Musiala den Weg ins Achtelfinale in Wembley gegen England bereitete – das hat schon ein „ausgerechnet“ verdient. Der Offensivspieler ist ein Wanderer zwischen den Welten. Und wenn man so will, ist er der perfekt passende Spieler zu diesem paneuropäischen Turnier mit Spielen in elf verschiedenen Ländern. Seine Mutter ist Deutsche mit polnischen Wurzeln, sein Vater stammt aus Nigeria. Geboren ist er in Stuttgart, aufgewachsen aber größtenteils in England. Inzwischen spielt er beim FC Bayern.
Wo sortiert man so einen ein? Ist er Deutscher? Engländer? Europäer? „Ich bin ein Teil von allem“, sagt Musiala im Gespräch mit dieser Redaktion. „Wegen dieser Vielfalt bin ich ein Mensch mit Werten aus verschiedenen Kulturen, dem es wichtig ist, diese Werte zu leben. Mir ist wichtig, dass man respektvoll miteinander umgeht, dass man dankbar ist für das was man hat, dass man mit Fleiß, Ehrgeiz und Disziplin alles erreichen kann.“ Ein Teil von allem, das klingt auch in der Sprache durch. Der Akzent ist unverkennbar englisch – wer aber genau hinhört, erkennt auch schon einen gewissen bayerischen Einschlag.
Chelsea als Glücksfall für Jamal Musiala
Bayern, das ist die neue Heimat. Drei EM-Heimspiele hat Musiala in München erlebt, nun folgt das nächste in London. „Heimat ist für mich, wo meine Familie ist“, sagt er. „Aktuell ist München meine Heimat, ich fühle mich mit meiner Familie hier sehr wohl. London ist aber auch Heimat für mich. Ich habe in London große Teile meiner Kindheit und Jugend verbracht, ich bin dort zur Schule gegangen und dort leben viele Freunde von mir.“
Es gibt Menschen, die das Aufwachsen in verschiedenen Kulturen als belastend empfinden. Nicht so Musiala: „Für mich war meine bisherige Reise sehr bereichernd und ich bin sehr dankbar dafür“, sagt er. Obwohl er kaum ein Wort verstand, als er mit sieben Jahren nach England kam. „Ich konnte die gesprochenen Worte nicht verstehen, aber ich konnte die nonverbale Sprache verstehen, die ermutigenden Gesten, die freundlichen Handlungen oder einfach nur ein Lächeln“, sagt er. Und: „Ich durfte vor allem die integrierende und verbindende Kraft des Fußballs erleben.“ Über den Fußball fand er schnell Zugang, fand er schnell Freunde. „Fußball ist die Sprache, die in England und speziell in London sehr gut gesprochen wird“, erklärt er. „Es spielt dann keine Rolle, ob man die Wörter der anderen versteht. Wenn man gemeinsam auf dem Spielfeld ist, befindet man sich auf der gleichen Wellenlänge und genießt einfach den Moment. Es ist die Magie des Fußballs.“
Diese Magie hat ihm den Weg bereitet. Der große FC Chelsea entdeckt den kleinen Jungen, nimmt ihn 2011 in seine Jugendabteilung auf. Acht Jahre ist er da alt und er bleibt, bis er 16 ist. Und das erweist sich als Glücksfall, weil man in England in dieser Zeit genau das Spiel fördert, das Musiala so stark macht: das Intuitive, das Bolzplatzspiel – das man in Deutschland in diesen Jahren aus den Augen verliert und gerade erst mühsam wieder einzubauen versucht in die Nachwuchsförderung. „In England wird in der Ausbildung viel Wert auf Technik und ein gutes Eins-gegen-Eins gelegt. Und darauf, frei zu spielen“, sagt Musiala. „Das hat mein Spiel schon sehr geprägt.“
Deutschland gegen England: Jamal Musiala vor dem Duell gegen seine zweite Heimat
Irgendwann aber kommt der Moment, in dem auch einer wie er sich einordnen muss, der Fußball verlangt das von seinen besten. Nachdem er in der Jugend fast ausschließlich für England gespielt hat, fällt im Februar die Entscheidung – für die DFB-Auswahl, deren Verantwortliche hartnäckig um das Ausnahmetalent geworben haben. „Mein erstes persönliches Treffen mit Jogi Löw und Oliver Bierhoff hatte ich in München“, erzählt Musiala. „Sie haben sich viel Zeit genommen und waren sehr interessiert an meiner Person, wollten meine Beweggründe und meine Motivation verstehen und mich erstmal als Menschen kennenlernen.“ Es beeindruckte ihn, wie informiert und interessiert die beiden waren. „Das hat mir ein sehr gutes Gefühl gegeben.“
Dass es Löw gelang, Musiala für die deutsche Nationalmannschaft zu gewinnen, darf als einer seiner größeren Erfolge in der jüngsten Vergangenheit gelten. Der nächste wäre nun ein Sieg gegen England in Wembley. „Ich freue mich schon auf das Spiel gegen meine zweite Heimat, das wird cool“, sagt Musiala. Einige gute Freunde werden auf der Gegenseite auflaufen – etwa der Dortmunder Jude Bellingham, mit dem er viele U-Nationalmannschaften durchlief.
Die Chancen der deutschen Auswahl sind ordentlich, findet ihr jüngster Spieler. „Wir spielen ganz gut und wenn wir ein paar Dinge verbessern, können wir weit kommen“, sagt er. „Aber jetzt müssen wir uns erstmal auf England konzentrieren.“
Mit gerade einmal 18 Jahren spielt er nicht nur wie ein ausgebuffter Veteran – er redet auch schon so.