Seefeld. Kai Havertz hat durch sein Siegtor im Champions-League-Finale neues Selbstvertrauen gewonnen. Im DFB-Team ist die Konkurrenz aber groß.

Beinahe hätte es Kai Havertz noch einmal gemacht. Mit einer fließenden Bewegung umkurvte er Torhüter Bernd Leno, dann schoss er den Ball mit dem schwächeren rechten Fuß an den Pfosten. Es war spiegelverkehrt, ansonsten wäre die Szene im Trainingslager der deutschen Nationalmannschaft in Seefeld fast die exakte Kopie eines Tors geworden, das Havertz kürzlich auf ungleich größerer Bühne geschossen hat: der 1:0-Siegtreffer im Champions-League-Finale mit dem FC Chelsea gegen Manchester City.

Das Finale am Samstag war auch der Grund, dass Havertz mit Verspätung eingetroffen ist im Lager der DFB-Auswahl, erst seit Donnerstag ist er in Seefeld. Doch schon die ersten Auftritte lassen erkennen, wie gut dem 21-Jährigen dieser Titel und sein Beitrag dazu getan hat. „Die letzte Woche war für uns gefühlt die beste Woche des Lebens“, sagt er, und schließt damit seine Mannschaftskollegen Timo Werner und Antonio Rüdiger ein.

Die drei sind mit dem gleichen Gefühl, aber mit unterschiedlichen Voraussetzungen angereist: Rüdiger dürfte für die Europameisterschaft (11. Juni bis 11. Juli) gesetzt sein im Abwehrverbund. Havertz dagegen wird noch kämpfen müssen um einen Platz in der Startelf. Das ist in der Nationalmannschaft nichts Neues für ihn – Bundestrainer Joachim Löw tut sich seit Jahren schwer, dieses Ausnahmetalent einzubauen, das in der Offensive so viele Positionen spielen kann. Am liebsten spielt er im Zentrum, als Spielmacher hinter den Stürmern. Aber genau dort hat jetzt auch Thomas Müller sein Revier, der Rückkehrer, der einen Stammplatz sicher haben dürfte. Und auch Ilkay Gündogan, Leon Goretzka und Toni Kroos balgen sich um die Positionen im Zentrum.

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Havertz: „Ich will Stammspieler sein“

„Thomas ist ein überragender Spieler, der das über Jahre hinweg zeigt, wir sind Konkurrenten“, sagt Havertz und beteuert, dass ihm der Mannschaftserfolg wichtiger wäre als das eigene Ego. „Wenn man nicht spielt, wünscht man dem anderen das Beste.“ Das „gemeinsame Ziel“ stehe im Vordergrund. Aber natürlich will Havertz nicht auf der Bank sitzen, wenn die deutsche Mannschaft am 15. Juni ins Turnier startet. „Klar will ich gegen Frankreich spielen“, sagt er. „Ich will Stammspieler sein.“ Auch rechts könnte er ja spielen, als Flügelspieler vor der defensiven Dreierkette. Oder als verkappter Stürmer, den er beim FC Chelsea und in der Nationalmannschaft schon gegeben hat. Aber wenn er sich einen Platz aussuchen dürfte, wäre es schon der im Zentrum. Und warum soll man nicht mit zwei Zehnern spielen, warum soll es nicht gemeinsam mit Müller gehen. „Alles geht“, sagt Havertz, und nickt bestimmt.

Man merkt, dass hier jemand neues Selbstbewusstsein, neue Gelassenheit getankt hat. Havertz‘ Vorbild ist Ronaldinho, der brasilianische Superstar, weil der auf dem Platz immer so viel Freude ausstrahlte. Das hat sich der Deutsche auch vorgenommen, aber das war nicht immer einfach in den vergangenen Monaten. Denn der Start in England war kompliziert: Havertz trug schwer an der Rekordablöse für einen deutschen Spieler von etwa 100 Millionen Euro, die Chelsea an Bayer Leverkusen gezahlt hatte. Und zu den üblichen Anpassungsproblemen kamen Verletzungssorgen, ein Trainerwechsel, Änderungen an Formation und Taktik – und dann auch noch eine Corona-Erkrankung. Die bekanntermaßen wenig zimperliche englische Presse machte das Ankommen auch nicht leichter.

Treffer im Champions-League-Finale gibt Selbstvertrauen

Ziemlich viel für einen jungen Spieler – Havertz wird 22, wenn am 11. Juni die EM beginnt. Aber die Schwierigkeiten waren mit einem Schlag vergessen durch den wichtigsten Treffer im wichtigsten europäischen Wettbewerb. „Er wird mal ein Superstar. Nein, er ist schon einer“, schwärmte sein Teamkollege und Kapitän Cesar Azpilicueta nach der Partie. „Er hat uns zum Sieg geschossen und ist gerannt wie verrückt.“

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Dass dieser Moment eine Auswirkung auf ihn hat, das leugnet auch Havertz nicht: „Das war ein sehr wichtiges Tor für mich persönlich, für den Verein, für meine Familie. Das bleibt mein Leben lang erhalten“, sagt er. „Ich brauche Selbstvertrauen, dann spiele ich am besten. So werde ich auch in die EM reinstarten.“

Netzer attestierte Havertz „Weltklasse“

Unter seinem neuen Trainer Thomas Tuchel ist Havertz beim FC Chelsea immer besser in Schwung gekommen. Der frühere Weltklasse-Spielmacher Günter Netzer attestierte ihm bereits „Weltklasse“. Das freut Havertz, als er davon hört. „Aber ich bin immer noch erst 21, da fehlt noch viel zur Weltklasse“, sagte er. „Ich muss das Niveau über mehrere Jahre zeigen und mich beweisen.“

Die Europameisterschaft wäre dafür die nächste gute Gelegenheit.