Essen. Ingo Anderbrügge hat viele Derbys für Dortmund und Schalke gespielt. Im Interview spricht er über das Duell - und seinen Ex-Trainer Huub Stevens.

Ingo Anderbrügge hat sowohl das Trikot des FC Schalke 04 als auch das von Borussia Dortmund getragen. Wenn es am Samstagnachmittag um 15.30 Uhr zum Duell seiner Ex-Klubs kommt, drückt der 55-Jährige den Königsblauen die Daumen. Im Interview spricht der Schalker Eurofighter außerdem über die Rivalität, seine Erwartungen und besondere Derbymomente.

Neckereien rund ums Derby

Sie selbst halten es mit dem FC Schalke, Ihre Frau Katrin mit Borussia Dortmund. Wie ist da vor dem Derby die Stimmung im Hause Anderbrügge?

Eigentlich ganz entspannt. Natürlich werden mal ein paar Neckereien ausgetauscht. Davon lebt ja der Fußball, das macht doch Spaß. Wenn immer alle die gleichen Interessen hätten, wäre das Leben ja auch langweilig.

Sie sind vor allem als Schalker in Erinnerung – aber haben ja auch eine starke Verbindung zum BVB und dessen Präsident Reinhard Rauball.

Meinen ersten Vertrag habe ich unter Reinhard Rauball unterschrieben, ihm habe ich meinen Start ins Fußballerleben zu verdanken. Er hat mir als jungem Spieler damals vertraut, zusammen mit dem Trainer. Das vergesse ich nicht. Und es geht ja nicht nur um Reinhard Rauball. Ich war vier Jahre Profi, davor ein Jahr A-Jugendlicher und zwei Jahre Vertragsamateur, also sieben Jahre bei Borussia Dortmund. Da gibt es von mir kein böses Wort und keine Stichelei, denn diese Zeit war für meine Karriere ganz wichtig.

Dennoch kam später der Wechsel zu Schalke, wo sie – obwohl sie vom großen Rivalen kamen – sogar in die Jahrhundertelf gewählt wurden. War der Wechsel zwischen den beiden Klubs damals einfacher?

Ich glaube schon. Es war schon eine Rivalität da, keine Frage, aber es war etwas entspannter. Vielleicht auch, weil ich als recht junger Spieler mit 24 Jahren gewechselt bin und weil wir danach mit Schalke noch drei Jahre in der zweiten Liga gespielt haben. Da sind wir nur einmal im Pokal auf Borussia Dortmund getroffen, sodass der Kontakt nicht da war.

Ich habe vielleicht nicht immer gut gespielt, aber ich war immer fleißig

Und deswegen hat man Ihnen die Dortmunder Vergangenheit verziehen?

Bei Schalke 04 ist es letztlich wie bei jedem anderen Verein auch: Wenn man über Jahre bei sich bleibt und authentisch ist, den Fans nichts vormacht und fleißig ist, wird das respektiert. Und ich glaube, das kann ich von mir behaupten. Ich habe vielleicht nicht immer gut gespielt, aber ich war immer fleißig, ich bin immer mit den Fans vernünftig umgegangen.

Und Sie haben eine ganze Menge Derbys gespielt. Woran erinnern Sie sich besonders?

Als erstes fällt mir der 1:0-Sieg mit Schalke 1997 ein. Darauf werde ich auch heute noch von vielen Fans angesprochen, weil ich das entscheidende Tor erzählt habe. Ich erinnere mich auch gerne noch an das 2:2, als Jens Lehmann in der letzten Minute das Tor köpfte. Wir haben mal dank Toren von Günter Schlipper und Bent Christensen 2:0 in Dortmund gewonnen. Und ich habe mal als Schalker einen Elfmeter vor der Südtribüne verwandelt – der reichte allerdings nicht, wir haben 2:3 verloren. Es waren schon viele, viele Highlights.

Die Bedeutung dieses Spiels hat Ihnen unter anderem Michael Zorc eingetrichtert?

Ja, Michael Zorc war schon zwei oder drei Jahre früher Lizenzspieler, er ist ja ein Jahr älter. Und er ist ein Junge aus Dortmund, da ist das verständlich. So würde ich es auch machen, wenn ich für Schalke arbeiten würde, und so habe ich es früher auch gemacht, wenn neue Spieler kamen. Die müssen wissen, wie wichtig das Spiel ist. Damit ziehen sich die Leute gegenseitig auf, am Arbeitsplatz, am Wochenende in den Schrebergärten, im Fitnessstudio und im Familienkreis. Die Spieler müssen wissen, warum das so wichtig ist, woher die Historie stammt. Sonst macht es ja keinen Spaß, sonst ist es bloß wie Schalke gegen Freiburg oder Hoffenheim.

"Ich glaube nicht, dass Schalke durch einen Derbysieg die Saison retten kann"

Blicken wir aufs aktuelle Spiel: Welche Erwartungen haben Sie?

Schalke braucht noch ein paar Punkte, auch wenn sie sechs vor dem VfB Stuttgart sind. Ich glaube nicht, dass man durch einen Derbysieg die Saison retten kann. Man kann den Fans dadurch vielleicht noch eine gute Sommerzeit bescheren, aber trotzdem ist die Saison natürlich nicht gut gelaufen. Man braucht also dringend Punkte. Das wird schwer genug. Dortmund spielt um die Meisterschaft, die werden sich das zu Hause nicht nehmen lassen wollen. Die werden Schalke auch nicht unterschätzen, dafür ist das Derby zu wichtig. Vielleicht hat man Glück, dass Dortmund wie gegen Mainz eine gute erste Halbzeit spielt und die zweite nicht so hinkriegt. Vielleicht hat man das 4:4 aus der vergangenen Saison noch im Kopf als Beleg dafür, dass man da schon einiges bewegen kann.

Ingo Anderbrügge (rechts) hat schon viele Revierderbys gespielt. Hier hat er BVB-Spieler Michael Lusch aussteigen lassen.
Ingo Anderbrügge (rechts) hat schon viele Revierderbys gespielt. Hier hat er BVB-Spieler Michael Lusch aussteigen lassen. © firo

Letztes Saison war Schalke noch Vizemeister, jetzt ist Dortmund wieder deutlich vorbeigezogen. Was macht der BVB besser?

Ich finde, dass solche Vergleiche hinken. Dortmund ist mit den vielen jungen Spieler nach dem Trainerwechsel brillant in die neue Saison gestartet. Das war Fußball, wie man ihn bisher nur von Bayern München kannte. Sie hatten gute Verpflichtungen gehabt und da stand eine Mannschaft auf dem Platz. Mario Götze ist fast schon wieder in seiner besten Verfassung. Dazu kommt ein deutlich weniger verletzungsanfälliger Marco Reus, der immer wieder entscheidende Tore macht, der Akzente setzt.

Und Schalke?

Da hat man es nicht geschafft, die Begeisterung aus dem Vizemeister-Jahr wieder auf den Platz zu bekommen. Das hat man dann ja auch Domenico Tedesco vorgeworfen, dass er zwar fleißig war, dass er Schalke gelebt hat – es aber nicht geschafft hat, die Mannschaft so ein- und aufzustellen, dass sie bessere spielerische Akzente setzt. Da passte einiges nicht, das ist zumindest das Bild nach außen. Intern weiß ich nicht, was da war. Man hat natürlich in Naldo einen Leistungsträger des Vorjahrs gehen lassen. In Höwedes ging ein Jahr zuvor ein Kopf der Mannschaft. Dann musste Kapitän Ralf Fährmann auf die Bank. So hast du natürlich drei Eckpfeiler verloren, obwohl das in jedem einzelnen Fall nachvollziehbar war. Und das bekommst du nicht mal eben durch Neuverpflichtungen sofort ersetzt. Das muss wachsen.

Und solche Eckpfeiler braucht man?

Ja, ich habe mich als junger Spieler immer wohl gefühlt, wenn zwei, drei ältere Spieler mich geführt haben, mich mal aufgemuntert haben oder einfach präsent fahren. Dann können junge Spieler wachsen. Aber wenn ein Amine Harit oder ein Weston McKennie schon Führungsspieler werden müssen, sind sie einfach irgendwann überfordert. Sie müssen sich auf ihren Job konzentrieren. Das ist in meinen Augen auch einer der Gründe, warum es bei Schalke anders lief als bei Borussia Dortmund. Schalke hat zudem viel gewechselt, hatte viele unterschiedliche Spieler auf unterschiedlichen Positionen. Da ist Dortmund ein bisschen stabiler aufgetreten. Und dann hat der BVB mit Spielern wie Christian Pulisic und Jadon Sancho enorm viel Tempo im Spiel und das ist im heutigen Fußball sehr entscheidend.

Sie kennen Huub Stevens ja noch aus eigener Erfahrung. Wie packt er eine solche Mannschaft an?

Ich glaube, dass er in der ersten Zeit sehr stark beobachtet und mit vielen Spielern gesprochen hat. Er hat wahrscheinlich eine Art Bestandsaufnahme gemacht: Woran liegt es, was ist mit dir, wie fühlst du dich, was sind deine Probleme? Und er hat versucht, Vertrauen in die Spieler zu setzen, aber auch auf Disziplin gesetzt. Er hat ja klare Maßnahmen getroffen, indem er den einen oder anderen Spieler zur U23 geschickt hat. Man hat eben nicht die Zeit, lange zu reden. Du bist auf der Zielgeraden der Saison und entweder funktioniert da einer oder eben nicht. Huubs Ziel ist der Klassenerhalt. Und wenn er sieht, da macht einer nicht mit, dann braucht er den nicht.

Ist Typ Stevens nach innen genauso ruppig, wie er manchmal mit Journalisten umgeht?

Aber ihr müsst doch auch lieb sein und nicht immer solche Fragen stellen. Ihr kennt ihn doch. Wenn man ihn dann noch reizt, dann kann er eben auch anders, er ist doch nicht dumm. Man muss vernünftig mit ihm umgehen und ihn nicht veräppeln oder ihm doofe Fragen stellen. Ein bisschen kokettiert er auch damit, glaube ich. Andererseits wird bei Spielern doch immer gesagt, man braucht nicht immer nur die glattgebügelten, sondern welche mit Ecken und Kanten. Jetzt habt ihr so ein Urgestein wieder in der Liga, das ist doch spaßig, wenn er am Anschlag und wütend ist. Nur der Huub muss aufpassen, dass er nicht irgendwann einen Herzinfarkt bekommt.

"Man muss Profis nicht immer nur streicheln und den Arm nehmen"

Aber nach innen mit den Spielern geht er anders um?

Ja und nein. Er ist zu sehr Profi. Da darfst du als Spieler nicht drei, vier Trainingseinheiten alibimäßig abarbeiten und anschließend in die Kabine kommen und sagen: Trainer, warum spiele ich nicht? Das beantwortet er dir gar nicht. Da fliegst du raus, weil er dann sagt: Verarscht mich doch nicht! Seit einer Woche trainierst du so eine Scheiße, und jetzt sagst du, dass du spielen willst und besser bist als andere? Das ist nur ein Beispiel aber so funktioniert Stevens. Für mich war er von vielen guten Trainern, die ich hatte, der professionellste. Als ich selbst Wacker Burghausen trainiert habe, habe ich versucht, mir viel von ihm anzueignen. Aber ich musste das gar nicht tun, das war schon in mir. Ich habe mich immer erwischt, dass ich gedacht habe: Boah scheiße, so war der Huub auch. Ich mag diese Art. Man muss Profis nicht immer nur streicheln und den Arm nehmen, denn was will man denn? Will man Spieler haben die pausenlos mit ihrem Kosenamen angesprochen und den ganzen Tag nur umschmeichelt werden? Man erwartet doch auch auf dem Platz, dass sie dort ihren Mann stehen.

Das klingt nach einem sehr rustikalen Umgang.

Aber es gibt auch die andere Seite. Es gibt den Huub Stevens, der eine Datei hat, in der zu jedem Spieler die Geburtstage in der Familie eingetragen sind. Da kommst du morgens in die Kabine, da gratuliert er dir und sagt: Deine Frau hat doch heute Geburtstag. Wenn es um Familie geht, abseits des Fußballs, ist er ein ganz anderer Mensch.

Ist er auf Schalke der richtige Mensch am richtigen Platz?

Ja. Man muss ja vor allem auch den Zeitfaktor berücksichtigen: Wie kann man innerhalb einer so kurzer Zeit am Ende der Saison mal eben jemanden holen? Der will ja dann auch mindestens einen Jahresvertrag oder Zweijahresvertrag. Und die Kombination aus Co-Trainer Mike Büskens und Huub Stevens ist perfekt. Zwei Trainer, die aus dem Haus kommen, mit Stallgeruch. Wenn ich sehe, wie die beiden am Rand Gas geben: Das färbt ab.

Wir können das Gespräch natürlich nicht ohne die eine letzte Frage beenden: Wie tippen Sie das Spiel?

Ich tippe ein für Schalke schmeichelhaftes 1:1.