Siegen. . Nach Rückstand drehen die Essener die Partie beim Aufsteiger Kaan-Marienborn noch in einen souveränen 4:1-Erfolg. Fan-Ansprache nach dem Abpfiff.
Karsten Neitzel dachte schon alles erlebt zu haben, doch nach dem hinten heraus souveränen 4:1 (1:1)-Sieg beim 1. FC Kaan-Marienborn musste der Trainer von Rot-Weiss Essen dann doch noch etwas dazu lernen: Sein Typ war nach Schlusspfiff nicht gefragt im Spielerkreis. „Da kommt so ein Verrückter in unseren Kreis und hat eine Rede gehalten, die inhaltlich gar nicht so schlecht war”, staunte der Coach über den „Eindringling” in die Spielerrunde. Mit den Worten „Trainer, sei mal eine Minute ruhig”, muss der Unbekannte einen flammenden Appell an die Mannschaft gerichtet haben und ihr die Unterstützung der Fans versichert haben. Natürlich wollen die Verantwortlichen nicht, dass jetzt in Zukunft „jeder bei uns in die Kabine reinkommt”, aber die Aktion hat Spieler wie Trainer schon beeindruckt.
Die Wucht der Fans in positive Energie umsetzen
Die neu entflammte Liebe der Fans schlug sich auch zahlenmäßig nieder: Unter den 2516 Zuschauern im Siegener Leimbachstadion waren über 2000 aus Essen angereist. „Unfassbar”, so Neitzel, und deswegen so wertvoll: „Diese Wucht wollen wir in dieser Saison in positive Energie umsetzen”, verspricht der Trainer.
Jene Wucht, die im umgekehrten Fall auch schnell zur Belastung werden kann. „Klar, ich habe die Stimmen in der ersten Halbzeit hinter mir schon gehört”, bekannte der Coach, als es alles andere als rund lief bei seiner Mannschaft. Und die den Schock aus der elften Minute lange Zeit verdauen musste, als der Aufsteiger, unterstützt von einem Katastrophen-Querpass Benni Baiers, völlig überraschend durch den schnellen Elsamed Ramaj in Führung ging. Und der die Führung nach einer halben Stunde sogar hätte ausbauen können, als Tiziano lo Lacono völlig blank vor Torhüter Lukas Raeder auftauchte, dieser aber glänzend per Fußabwehr parierte. „Da waren schon ein paar Aktionen dabei, wo wir draußen durchschnaufen mussten, da haben wir ordentlich Bildmaterial für die nächsten Tage”, versprach Neitzel.
Doch nach Phasen des Querschiebens der Verantwortung, noch gut bekannt aus der Vorsaison, zeigte RWE die neu hinzugewonnene individuelle Klasse. Das Spiel brauchte diesen einen genialen Moment, und der kam in Minute 35 daher, als sich der Neue im Doppelpass auf der linken Seite mit Kevin Grund nach vorne arbeitete, durch den Strafraum wuselte und wieselte und trocken einnetzte. „A Hund”, dieser Bayer, dieser Bichler-Florian.
Plötzlich war das Selbstvertrauen wieder da, vieles ging nach dem Wechsel leichter vom Fuß, innerhalb von vier Minuten lenkten Kai Pröger (54.) und der körperlich ungemein starke Platzek-Ersatz Enzo Wirtz (58.) die Partie in die erwarteten Bahnen. Als „Zuckerl” obendrauf noch der Kopfballtreffer von Philipp Zeiger (78.), eine Rarität im RWE-Sammelalbum.
Abwehrchef blieb selbstkritisch
Nachdem alle Abklatschrunden im Stadion absolviert waren, fand der Abwehrchef aber auch schnell wieder einen realistischen Blick auf die Partie: „Es ist sicherlich nicht alles Gold, was glänzt, in der ersten Halbzeit haben wir uns schwer getan und viel zu viele Chancen zugelassen, da haben wir noch eine Menge Arbeit vor uns. Aber – und das ist die Kehrseite der Medaille – solche Spiele musst du auch erst einmal gewinnen.” Auch daran, das bekennt Zeiger offen, hätten die Fans ihren gehörigen Anteil: „Sie sind nach dem Rückstand ruhig geblieben, das hat uns sehr geholfen.”
Das wird sicherlich auch in den kommenden Spielen vonnöten sein, denn RWE hat sich in dieser Saison auch ein anderes Spiel auf die Fahnen geschrieben: „Wenn wir voll drauf gehen vorne, bieten wir natürlich Räume dem Gegner an, aber das ist das anspruchsvollere Spiel, das möchten die Zuschauer, und das möchten wir auch. Dann muss man auch hochkonzentriert sein, wenn der Stürmer antritt.”
Jede Woche voll unter Strom auf den Platz gehen
Am Ende, so der Trainer, war es ein gelungener Tag, weil man keinen guten Tag hatte und trotzdem am Ende die drei Punkte geholt habe. Die Rot-Weiss vorübergehend zumindest auf Rang drei der Tabelle gehievt haben. Und für die kommenden Wochen gelte der „alte beschissene Spruch”: „Wenn du nicht jede Woche voll unter Strom auf den Platz gehst, dann kannst du jedes Mal Probleme haben. Genauso haben wir die Qualität in der Mannschaft, egal gegen wen, jede Woche die Punkte in Essen zu behalten.”
Denn Rot-Weiss hat allen anderen Mannschaften etwas voraus: Die „Wucht” im Nacken.