Dortmund. Borussia Dortmund steht nach der Hinrunde auf einem Abstiegsplatz. Der Absturz des Vizemeisters sorgt für Verwunderung - ist aber nicht unerklärlich.
Vergleiche mit dem 1. FC Nürnberg sind ein untrügliches Zeichen, dass die Lage ernst ist. Dem "Club" war 1969 das Kunststück gelungen, als amtierender Meister aus der Bundesliga abzusteigen - und 2008 immerhin als amtierender Pokalsieger. "Der Glubb is a Depp", sagt man in Franken seitdem in gepflegtem Fatalismus.
In Dortmund ist es noch lange nicht so weit. Doch immerhin macht schon das Wort "Vollidioten" die Runde - in den Mund genommen von jemandem, der sonst nicht im Verdacht steht, den BVB zu beschimpfen: Trainer Jürgen Klopp. "Wir stehen da wie die Vollidioten", sagte er nach der 1:2-Niederlage seiner Mannschaft beim Abstiegskandidaten Werder Bremen. Aber was heißt das schon: beim Abstiegskandidaten? Tabellarisch war es eine Begegnung auf Augenhöhe, Klopps Truppe belegt nach einer beispiellos verkorksten Hinrunde Tabellenplatz 17, einen direkten Abstiegsplatz. Zwar bleibt noch eine ganze Rückrunde Zeit, die Sache zumindest halbwegs auszubügeln; doch der Absturz des Vizemeisters, Vize-Pokalsiegers und aktuellen Champions-League-Achtelfinalisten ist dennoch atemberaubend - und hinterlässt Ratlosigkeit bei Spielern, Trainerteam und Offiziellen.
Und doch gibt es Gründe für die Misserfolgs-Serie des BVB - wir haben die wichtigsten gesammelt.
Körperliche Schwächen und Verletzungspech
Trainer Klopp begründet die Krise in etwa so: Die vielen WM-Teilnehmer im Kader konnten erst spät in die Vorbereitung einsteigen, zudem gab es immer wieder Verletzte. Daher fehlten einem Großteil des Kaders die notwendigen Grundlagen für den kraftraubenden BVB-Fußball.
Tatsächlich waren zehn Dortmunder bei der Weltmeisterschaft in Brasilien dabei, fünf von ihnen gar bis zum Finale. Zudem musste der BVB einerseits Spieler wie Jakub Blaszczykowski, Neven Subotic und Ilkay Gündogan nach enorm langen Verletzungspausen wieder heranführen, andererseits fielen mit Mats Hummels, Henrikh Mkhitaryan, Marco Reus, Nuri Sahin oder Oliver Kirch weitere Spieler immer wieder für längere Zeiträume aus. Aber reicht dies, den Absturz auf Rang 17 zu erklären?
"Wir haben ungeachtet unseres Verletzungspechs nicht alles richtig gemacht", sagte BVB-Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke dem Pay-TV-Sender Sky. Denn der Blick auf die Konkurrenz zeigt: Der BVB hatte seine Sorgen keinesfalls exklusiv: Der FC Bayern hatte mit 13 noch mehr WM-Fahrer und ähnliches Verletzungspech - ist mit seinem Luxuskader aber natürlich im Vorteil gegenüber dem BVB. Anders der Revierrivale Schalke 04, der immerhin neun WM-Fahrer und ebenfalls enormes Verletzungspech hatte und zwar keine überragende, aber von den Ergebnissen her eine befriedigende Vorrunde spielte und nur einen Punkt hinter dem sicheren Champions-League-Rang drei liegt. Hat der BVB in der Saison-Vorbereitung also Fehler gemacht?
Das personelle Risiko
Zumindest war schon vor der Saison klar, dass der BVB auf einigen Positionen ins Risiko gehen würde - etwa bei den Innenverteidigern: Mit vier Mann ist die Position nominell stark besetzt. Drei allerdings nahmen an der WM teil, zwei von ihnen für Deutschland - es war also nicht überraschend, dass sie lange in Brasilien waren. Und Neven Subotic kehrte nach Kreuz- und Innenbandriss und über 300 Tagen ohne Pflichtspiel zurück - seine Form war ebenso schwer vorherzusehen wie die Integration des Neuzugangs Matthias Ginter.
Im Mittelfeld hatte man mit Ilkay Gündogan, Jakub Blaszczykowski und Marco Reus drei Spieler, die die Vorbereitung verletzt verpassen würden - Gündogan und Blaszczykowski nach einer derart langen Pause, die eine seriöse Planung äußerst schwierig machte. Dazu wurde mit Shinji Kagawa ein Spieler verpflichtet, den man zwar in bester Erinnerung hatte - der bei Manchester United aber nicht über die Rolle des Ergänzungsspielers hinausgekommen war. Und im Sturm setzte man auf gleich drei Neue, die allesamt zur WM nach Rio gereist waren. In sämtlichen Mannschaftsteilen ging man also gewisse Risiken ein - und nur in den wenigsten Fällen ging es gut.
Als zu Saisonbeginn mit Mats Hummels, Ilkay Gündogan, Nuri Sahin und Oliver Kirch sämtliche strategisch begabten Aufbauspieler fehlten, wurde zudem eine Schwäche des Kaders augenscheinlich. Zwar ist dieser gespickt mit vielen Spielern mit herausragenden individuellen Fähigkeiten: Sven Bender, der zweikampfstarke Abräumer. Pierre-Emerick Aubameyang, der pfeilschnelle Abschluss-Spieler. Ciro Immobile, der wuchtige Strafraumstürmer. Spieler, die eine klar definierte Rolle hervorragend ausfüllen können. Es fehlen aber die Strategen: die Spieler, die Verantwortung im Spielaufbau übernehmen können, die tragenden Stützen des Gesamtgerüsts.
Die körperlichen Schwierigkeiten und personellen Probleme des BVB waren also größtenteils unverschuldet - ihre Auswirkungen allerdings durch viele optimistische Annahmen noch verschärft.
Die schwierige BVB-Personalsituation
Den Namen Robert Lewandowski kann in Dortmund inzwischen kaum noch jemand hören. Nicht, weil man auf den Stürmer schlecht zu sprechen wäre - man wird einfach ständig auf ihn angesprochen. Denn natürlich fehlt der Weltklassemann an allen Ecken und Enden. Der Torschützenkönig war nicht nur wegen seiner vielen Treffer wichtig, er trug das BVB-Offensivspiel an guten Tagen fast alleine auf seinen Schultern. Die Neuzugänge Immobile und Adrian Ramos haben ihn bislang nicht annähernd ersetzen können - und der mehrfach auf dieser Position eingesetzte Aubameyang ist zwar stark im Abschluss, allerdings weniger im Herauskombinieren von Torchancen.
In Shinji Kagawa wurde zudem ein Spieler zurückgeholt, der es in zwei Jahren unter drei verschiedenen Trainern nicht geschafft hatte, sich bei Manchester United durchzusetzen - in einem Mittelfeld, das allenfalls noch gehobenen Durchschnitt verkörperte. Dafür ging mit Jonas Hofmann ein Spieler, der noch nicht an Kagawas Klasse heranreichen mag, dem BVB dank seiner Vielseitigkeit im Mittelfeld aber gut zu Gesicht gestanden hätte.
Die Spielweise
Trainer Klopp setzt nach wie vor auf Vollgasfußball, auf kraftraubendes, intensives Pressing und schnelles Umschalten. Es ist der Spielstil, mit dem Borussia Dortmund den Aufstieg vom Außenseiter zu einer der Mächte des deutschen und europäischen Fußballs schaffte und der Gegnern das Leben nach wie vor enorm schwer macht - wenn die Fitness stimmt. In der Hinrunde war dies zu selten der Fall. Trotz der sich früh abzeichnenden Probleme verzichtete der BVB im Sommertrainingslager darauf, seiner Spielweise einige ökonomischere Ballbesitzelemente beizumischen. So erfordert jedes Spiel enormen Aufwand - und es fehlen die Mittel, die Abwehrriegel defensiv agierender Gegner aufzuhebeln.
Da es aufgrund der vielen englischen Wochen kaum die Möglichkeit gab, außer Regeneration auch taktisches Training zu bestreiten, fehlte im Saisonverlauf hier die Möglichkeit, Korrekturen vorzunehmen - und auch die Automatismen im BVB-Spiel, von denen die Schwarz-Gelben sonst in besonderem Maße leben, konnten kaum einstudiert werden. So kam es zu Szenen wie beim 1:2 in Bremen, als sich die BVB-Abwehr schon nach zweieinhalb Minuten einer Bremer Überzahl entgegen sah - ein spieltaktischer Fehler allerdings, der auch mit den allergrößten Verletzungssorgen nicht passieren darf.
Die Systemfrage
In der Sommervorbereitung zeigte sich Klopp experimentierfreudig wie lange nicht. Hatte der BVB zuvor jahrelang fast ausschließlich im 4-2-3-1 gespielt, wurden nun andere Systeme eingeübt - vor allem solche, in denen die Dortmunder mit zwei Spitzen agierten. Beim 2:0-Sieg gegen den FC Bayern im Supercup etwa agierte man in einem 4-4-2-System mit Mittelfeldraute. Und doch wurde in der abgelaufenen Hinrunde meist in einer 4-2-3-1-Formation oder einer sehr ähnlichen Aufstellung gespielt. Gründe dafür gibt es viele: Aufgrund der vielen Verletzungen fehlte das geeignete Personal für die Halbräume und die Rolle des alleinigen Sechsers - denn der Kader ist auf dieses System eigentlich nicht ausgerichtet. Durch eine Rückkehr zum altbekannten System erhoffte sich das Trainerteam außerdem mehr Stabilität - eine Hoffnung, die sich nur teilweise erfüllte.
Der dritte Grund schließlich hört auf den Namen Shinji Kagawa: Klopp musste den Japaner wegen der Personalsituation früher, als ihm lieb war, einbauen, nämlich schon direkt nach dessen Rückkehr aus England. Daher entschied er, den Japaner im auch ihm bestens bekannten 4-2-3-1 als Spielmacher aufzubieten - andere Positionen und Systeme wurden Kagawa offenbar nicht zugetraut.
Statt größerer Variabilität und taktischer Anpassungsfähigkeit stand so am Ende das altbekannte System, an dem man allerdings nie ausreichend gefeilt hatte bzw. hatte feilen können - weshalb es oft zu statisch interpretiert wurde und gleichzeitig Stabilität vermissen ließ.
Öfter als in der Vergangenheit griff Klopp dafür während der Spiele zu Umstellungen. Weil aber eine stabile Basis fehlte, waren auch diese selten erfolgreich - und brachten eher weitere Unruhe in eine unsichere Mannschaft. So verlor der BVB gegen den 1. FC Köln (1:2) und Bayern München (1:2) und verspielte gegen den FC Augsburg fast eine 3:0-Führung (3:2).
Hatte das BVB-Team Mentalitätsprobleme?
Für eine erfolgsverwöhnte Mannschaft stellt der Abstiegskampf eine besondere Herausforderung dar - das war auch beim BVB zu beobachten. Lange schien man den schwachen Saisonstart nicht wirklich ernst zu nehmen, BVB-Boss Hans-Joachim Watzke bezeichnete einen möglichen Abstieg nach zehn Spieltagen noch als "schönen Joke", der nicht passieren werde. Erst nach der 0:2-Niederlage bei Eintracht Frankfurt am 13. Spieltag rief Manager Michael Zorc den Abstiegskampf aus.
Bis zu allen Spielern schien dies aber bis zum 17. Spieltag noch nicht durchgedrungen zu sein: Gegner Werder Bremen etwa erteilte beim 2:1-Sieg Anschauungsunterricht in Sachen Leidenschaft und Aggressivität. Auf Dortmunder Seite dagegen war die unbedingte Gier der vergangenen Jahre nicht immer zu beobachten.
Diese Gier, diese Bereitschaft, sich bis zur Erschöpfung zu verausgaben, beruht auch auf dem unbedingten Glauben der Spieler, für ihren Einsatz belohnt zu werden. Doch diese Belohnungen in Form von Erfolgserlebnissen stellten sich immer seltener ein, stattdessen wuchs von Spiel zu Spiel die Verunsicherung - mental eine äußerst herausfordernde Situation.
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Zumal wenige Spieler mit freiem Kopf in die Saison gegangen waren. Mats Hummels etwa, herausragender WM-Spieler und als neue Führungsfigur auserkoren, fand verletzungsbedingt nur schwer in die Saison und hatte den herausfordernden Umstieg von Weltmeisterschaft auf Alltag zu meistern - er hatte mehr mit seinen eigenen Problemen zu tun, als dass er die ihm zugedachte Kapitänsrolle ausfüllen konnte.
Erik Durm, Matthias Ginter, Kevin Großkreutz und Roman Weidenfeller dürfen sich zwar Weltmeister nennen - machten in Brasilien aber die Erfahrung, dass ihre Dienste nicht gefragt waren. Marco Reus, Marcel Schmelzer und Sven Bender verpassten den vermeintlichen Karrierehöhepunkt verletzungsbedingt. Ciro Immobile erlebte mit Italien eine enttäuschende WM - die Liste ließe sich noch lange fortsetzen.
Fehlendes Glück
Fußball ist ein Sport, bei dem nicht wenig vom Zufall abhängt. Tatsächlich hätten zumindest einige BVB-Spiele auch ganz anders ausgehen können, wenn der Ball statt am Pfosten im Tor gelandet wäre. Wenn der gegnerische Torwart keinen Sahnetag erwischt hätte. Wenn der Schiedsrichter anders entschieden hätte. Wenn, wenn, wenn...
Es waren also viele kleine und große Probleme, die zusammenkamen: mentale und körperliche Schwierigkeiten, eine veränderte Hierarchie, taktische und spielerische Fehler - all dies summierte sich irgendwann zu einem Abwärtssog; mit jeder Niederlage wuchs die Verunsicherung weiter - was die folgenden Aufgaben nur noch schwieriger machte. Nachdem die Punktverluste zu Saisonbeginn noch viel mit mangelhafter Chancenverwertung zu tun hatten, spielte der BVB zum Hinrunden-Ende wirklich wie ein Absteiger.
Die Aussichten
Eines ist klar: Jürgen Klopp steht auch nach der schwächsten Hinrunde, die er jemals mit dem BVB abgeliefert hat, nicht zur Disposition. "Wir haben einen der besten Trainer, die es überhaupt gibt", sagt Geschäftsführer Watzke. "Daran gibt es nichts zu rütteln. Jürgen ist total fokussiert. Er steht zu 150 Prozent hinter der ganzen Geschichte."
Die schwarz-gelben Hoffnungen liegen auf der Rückrunden-Vorbereitung. Insbesondere im Trainingslager in La Manga sollen die körperlichen Grundlagen für eine erfolgreiche Rückrunde gelegt und an der defensiven Stabilität gearbeitet werden. Mit Kevin Kampl wurde zudem ein trickreicher und pressingstarker Spieler für die Offensive geholt.
Doch schon jetzt ist absehbar, dass die Vorbereitung nicht einfach wird: Henrikh Mkhitaryan wird sie größtenteils verletzt verpassen, Shinji Kagawa und Pierre-Emerick Aubameyang sind mit ihren Nationalmannschaften beim Asien- bzw. Afrikacup. Kevin Kampl muss als Neuzugang erst hineinfinden ins BVB-System - und Marco Reus wird sich weiter mit der Frage tragen, ob er seine Zukunft in Schwarz-Gelb sieht oder im Sommer von seiner Ausstiegsklausel Gebrauch macht.
Klopp immerhin gibt sich inzwischen genügsam: "Wir haben die beschissenste Vorrunde unseres Lebens gespielt und sind trotzdem nur drei, vier Punkte weg von Plätzen, die für uns komplett in Ordnung wären." Drei, vier Punkte - das ist der Abstand zum SC Paderborn und dem 1. FC Köln. Mit dem langjährigen Rivalen FC Bayern kann und will man sich derzeit in Dortmund nicht messen. "Es geht nur darum, den Abstieg zu vermeiden", sagt Watzke. Eine Saison ohne Champions oder Europa League "werden wir gut verkraften, ohne Schulden machen zu müssen".
Fraglich wird dann allerdings sein, ob alle seine Spieler dies gerne verkraften wollen.