Essen. Fairness im Wahlkampf? Fehlanzeige! Besonders CDU-Chef Merz droht immer wieder in die Falle zu tappen, die ihm der Kanzler stellt.
Wenn in einer Bundestagsdebatte aus dem CDU-Abgeordneten Jürgen Wohlrabe der „Herr Übelkrähe“ wurde und aus dessen Kollegen Jürgen Todenhöfer der „Abgeordnete Hodentöter“, dann war dieser Mann am Werk: Herbert Wehner. No jokes with names, keine Witze mit Namen? Darauf wie auch auf andere Umgangsformen pfiff der legendäre frühere SPD-Fraktionsvorsitzende herzlich, und er war damit wahrlich nicht allein damals. Nun hat sich wieder jemand einen kleinen Namens-Scherz erlaubt. Dieser war in Sachen Frechheit und Originalität zwar weit vom Herbert-Wehner-Niveau entfernt. Aber es war der amtierende Bundeskanzler, der sich das erlaubt hat, und er tat es inmitten einer Debatte, die sich um Stilfragen im Wahlkampf dreht. Der Verhohnepiepelte, immerhin der ebenso aussichtsreiche wie humorbefreite Kanzler-Herausforderer der Unionsparteien, echauffierte sich sofort nach allen Regeln der Kunst, und nun drängt sich natürlich die Frage auf, wie schrecklich, lustig oder peinlich das alles ist.
„Fritze Merz erzählt gern Tünkram.“ Das war im Wortlaut das, was Olaf Scholz über den CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz im „Heute-Journal“ des ZDF gesagt hatte. „Tünkram“ bedeutet im Norden Deutschlands so etwas wie „dummes Zeug“ oder „Unsinn“. Im Bayerischen würde man vielleicht „Schmarrn“ sagen, im Ruhrgebiet wären es die berühmten „Fisimatenten“. Nun kann man sich schon darüber streiten, wie lustig eine humorig gemeinte Aussage ist, deren Hauptbestandteil man erst einmal nachschlagen muss. Beim „Fritze“ ist schon leichter zu erkennen, dass das eine flapsige Abwertung sein soll. Man denke nur an Wilhelm Buschs Onkel Fritz, dem „Max und Moritz“ viele Krabbeltierchen ins Bett legten. Was für ein Opfer! Dass sich Merz darüber ärgert, ist verständlich. Zugleich finde ich den Angriff ebenso putzig wie die Reaktion des Angegriffenen.
Eine Falle für „Fritze“
Er verbitte es sich, „dass der Herr Bundeskanzler mich in dieser Art und Weise hier persönlich bezeichnet und angreift“, reagierte Merz im selben „Heute-Journal“, und fügte hinzu: „Aber das ist offensichtlich ein Muster, das wir jetzt sehen.“ Man könnte auch sagen: eine Falle – eine Falle, in die Merz immer wieder hineintappen soll. Scholz lockt Merz aus der Reserve, und der zeigt sich nicht staatsmännisch gelassen, sondern dünnhäutig emotional. Kanzler geht anders. Und wenn, so das Kalkül von Scholz und den Strategen in der SPD, die Wähler das bemerken, wenn sie befürchten müssen, dass Merz auch in Fragen von Krieg und Frieden zu hitzig reagiert, dann könnte Scholz die Chance nutzen, die er angeblich nicht hat. Insofern hat Scholz auch nichts zu verlieren, wenn er seinerseits jede Zurückhaltung aufgibt und auf Angriff schaltet.
Da nutzt es auch wenig, wenn Merz prominente Schützenhilfe aus Nordrhein-Westfalen erhält, und zwar ausgerechnet von seinen früheren Rivalen Armin Laschet und Hendrik Wüst. „Den Namen des Wettbewerbers ins Lächerliche zu ziehen, ist inakzeptabel“, schrieb der Unions-Kanzlerkandidaten-Vorgänger Laschet artig in einem Social-Media-Beitrag. „Der Oppositionsführer ist für den Kanzler nicht der ‚Fritze‘.“ Die Wortwahl zerstöre jeden Respekt unter Demokraten. Und der amtierende Ministerpräsident und Kanzlerkandidat der Herzen, Wüst (gäbe es die Sendung „Deutschland sucht den Super-Schwiegersohn“, wäre er ganz vorne dabei), ermahnte Scholz bei „Maischberger“ in der ARD, der Kanzler solle nicht „billig Punkte machen“ und sein „merkwürdiges Verhalten“ abstellen. Sonderlich beeindrucken dürfte das niemanden, weder im Kanzleramt noch im Willy-Brandt-Haus.
Fairnessabkommen im Gespräch
Wie heftig wird er also werden, dieser kurze Wahlkampf? Und wie schädlich für unsere Demokratie? Zur Einordnung muss man sagen, dass wir von US-amerikanischen Verhältnissen zum Glück sehr weit weg sind, weiterhin und absehbar. Trotzdem aufgeschreckt durch die Stil-Debatte und die Frage, ob am Ende nicht ausgerechnet die AfD davon profitiert, wenn sich etablierte Politiker verbal raufen, wenn sie herumrüpeln und -pöbeln statt zu argumentieren, verhandeln alle Parteien mit Ausnahme der Rechtsradikalen derzeit über ein Fairnessabkommen. Vor allem aus der Union werden aber schon Bedenken formuliert. Merz sagt, er wolle darüber „nachdenken“, was einen unwillkürlich auf den Kalender schauen lässt. Lange ist es nicht mehr hin bis zur Wahl. Und aus der CSU kommt der scheinheilige Hinweis, zunächst einmal müsse sich die SPD „selbstverpflichten“.
Festzuhalten ist, dass der Tag der Vertrauensfrage im Bundestag, der ein historischer hätte werden können, den Protagonisten entglitten ist. Das war wahrlich keine Werbung für den Parlamentarismus. Der dort vorgetragene Vorwurf von Scholz an FDP-Chef Lindner, diesem fehle die „sittliche Reife“ zu regieren, zeigt, wie tief die Verletzungen sind, die sich SPD und FDP zuletzt zugefügt haben. Jedes Kind lernt, dass es zum Anstand gehört, Sach- und Personenkritik nicht zu vermengen. Aber genau dies ist geschehen und geschieht noch.
Friedrich Merz ist da keinen Deut besser, weshalb er sich auch nicht auf ein höheres moralisches Ross setzen sollte. Seine genüssliche Erzählung im Bundestag von Sitzungen des Europäischen Rates, in denen Scholz angeblich „stundenlang mit verschränkten Armen“ sitze und nichts sage, was er, Merz, zum „Fremdschämen“ finde, war genau das: zum Fremdschämen. Woher weiß Merz das so genau? War er dabei? Er sollte solche persönlichen Herabsetzungen lassen, finde ich. Sie vergrößern nur die Politikerverdrossenheit (nicht: Politikverdrossenheit!) in unserem Land und machen Merz klein.
Das 100-Milliarden-Euro-Loch
Dabei gäbe es so viel Sachliches zu diskutieren. Zum Beispiel die Frage, wie die Parteien ihre ganzen Wahlkampfversprechen eigentlich finanzieren wollen. Bis zu 100 Milliarden Euro, haben Experten ausgerechnet, kosten allein die Versprechen der Union. Zur „Gegenfinanzierung“ wolle man den Bundeshaushalt durchforsten, und außerdem werde das durch Steuersenkungen angeregte Wirtschaftswachstum die Mehrkosten wie von Zauberhand in die Haushaltskassen zurückspülen. Das hat in der Geschichte der Bundesrepublik zwar noch nie funktioniert, geht aber erst einmal im allgemeinen Getöse unter. Statt über solche spannenden Inhalte reden wir lieber über die Form.
Der größte Doppelmoralapostel überhaupt ist in diesem Spiel der bayerische Ministerpräsident und CSU-Chef Markus Söder. Er findet politische Gegner in einem durch „peinlich“ und „inkompetent“. Besonders gelte das für Grünen-Kanzlerkandidat Robert Habeck. Den erwähnt Söder in jeder Rede dutzendfach und macht ihn persönlich runter, in der Erwartung, Punkte zu erzielen mit seinem Habeck-Bashing. Zugleich wirft er den Grünen einen „Personenkult“ um Habeck vor.
Man muss sich vor dem Hintergrund, Stichwort: Personenkult, mal die Instagram-Botschaften des CSU-Chefs an seine Anhänger ansehen. Im gestrickten Söder-Weihnachtspullover verlost er dort riesige Lebkuchen mit seinem Konterfei drauf. Mehr Personenkult geht nicht. Selbst wenn man einen gehörigen Anteil Selbstironie unterstellt, scheint Söders Ego in einer Weise hervor, die mit dem Begriff „Sonnengott“ nur unzureichend beschrieben wäre.
Ex-Grünen-Chefin Ricarda Lang kommentierte das neulich so: „Vielleicht hat Gott Markus Söder nur geschaffen, um Friedrich Merz mal sympathisch wirken zu lassen.“ Und: Sie habe „ein bisschen Angst“, dass sich Söder „am 24. Dezember selbst in eine Krippe legt“. Nun ja: Sachkritik ist das freilich auch nicht. Immerhin sind diese bissigen Bemerkungen Langs etwas geistreicher als die Tünkram-Nummer von Scholz. Mit anderen Worten: Die Übergänge vom Wahlkampf zum Wahlkrampf sind und bleiben fließend.
Auf bald – voraussichtlich nach den Festtagen. Bis dahin wünsche ich Ihnen allen frohe und besinnliche Weihnachten!
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