Essen. Vom belächelten Teenager zum Reality-Star: Tara Tabitha erzählt, warum das Genre boomt, Zuschauer polarisiert und was hinter den Kulissen passiert.
Mit nur 17 Jahren steht Tara Tabitha eher zufällig das erste Mal vor der Kamera. Damals wird sie in der österreichischen Serie „Saturday Night Feather“ beim Feiern gehen begleitet. Schnell wird sie auf der Straße erkannt. Anstatt Ruhm zu erlangen, wird sie belächelt und in Clubs bespuckt. Lange muss sie daher von Security begleitet werden. Trotzdem bleibt sie dem Reality-TV treu, war seit 2021 auch im „Dschungelcamp“ und in der Dating-Show „Are You The One“ zu sehen. Nun erzählt die 31-Jährige, was Zuschauer nicht sehen und warum Reality-Shows faszinieren.
Wer viel Zeit im Internet verbringt, wird um Reality-TV nur schwer herumkommen. Denn das Genre, eine Balance aus Realität und Inszenierung, boomt. Die intimsten Momente werden vor Tausenden entblößt, jede Situation der allgegenwärtigen Beobachtung ausgeliefert. Die Formate bieten Ablenkung und Gesprächsstoff. Für die einen ist es niveauloser Schwachsinn, für andere seichte Unterhaltung und Entspannung nach einem stressigen Tag.
Dating-Formate boomen: Wie Reizverlust zu mehr Aufregung führt
Zwar wird die Sehnsucht nach Reality-TV nicht von allen geteilt. Trotzdem ist sie längst fest in der Gesellschaft und im Programm der Sender verankert. Non-fiktionale Unterhaltung und Reality-TV machen laut ARD/ZDF-Analyse 2023 bis zu 39 Prozent der Sendezeit von Sat.1, RTL und VOX aus. Mit Corona ploppen immer mehr Shows auf. In einer Zeit eingeschränkter Kontakte finden Menschen einen Ausgleich in besagten Formaten, in denen sich andere für sie ausleben.
Die Produktionen der Shows sind günstig. So lassen sich erfolgreiche Angebote schnell kopieren. „Alles, was Quote bringt, sorgt für Nachahmer. Jeder Sender will es haben“, sagt Joan Bleicher, Medienwissenschaftlerin von der Universität Hamburg. Vor allem Dating-Formate explodieren und sprießen in jeglicher Gestalt aus dem Boden, von „Love Fool“, wo sich Paare unter die Singles mischen, bis zu dem Klassiker „Der Bachelor“. Das verbreitete Konzept: Normschöne Menschen treffen in einer Villa aufeinander, buhlen um die große Liebe, während Alkohol fließt und Konflikte ausbrechen. Streiten und Flirten also.
„Es gibt ein altes Kulturprinzip der Unterhaltung: den Menschenzoo. Menschen interessieren sich für das Leben anderer.“
Die Shows befriedigen menschliche Bedürfnisse, das mache die Anziehung aus. „Es gibt ein altes Kulturprinzip der Unterhaltung: den Menschenzoo. Menschen interessieren sich für das Leben anderer“, erklärt Joan Bleicher. Die Shows stillen diese Neugierde und lassen Zuschauerinnen und Zuschauer ihr eigenes Lebensmodell bestätigen – nach dem Motto: „Im Vergleich zu denen geht es mir gut.“ Also auch eine Form der Selbsterhöhung. Dabei helfen Formate auch, über sich selbst nachzudenken: Wäre das, was ich sehe, für mich okay? Andere in sozialen Situationen zu sehen, ermöglicht es, einen neuen Blickwinkel einzunehmen – ein Lerneffekt.
Die Faszination von Reality-TV: Formate bleiben trotz Kritik beliebt
Ob Sexszenen bei „Are You The One“, ein Heiratsantrag bei „Big Brother“, Seitensprünge bei „Temptation Island“ oder Spucken und Mobbing im „Sommerhaus der Stars“: Dass Erotik und die Härte der Auseinandersetzungen immer extremer werden, liege an einem Reizverlust der Zuschauerinnen und Zuschauer, erklärt Joan Bleicher. Das heißt: Man gewöhnt sich an das Gesehene. Gleichzeitig polarisiert es. Skandale bedeuten Aufmerksamkeit: Denn je weiter etwas vom eigenen moralischen Kompass entfernt ist, desto mehr regen wir uns auf und die Einschaltquoten steigen. Auch Tabitha weiß: „Die Leute wollen keine Moralapostel sehen, sondern unterhalten werden.“
„Die Leute wollen keine Moralapostel sehen, sondern unterhalten werden.“
Das Verhalten in der Show weicht von dem im normalen Leben ab. Das kennt auch Tara Tabitha. „Im Club mache ich nicht mit vier Männern rum, so wie bei „Are You The One“ im Pool.“ Normalerweise date sie nicht einmal. Sex sells, das haben die Produktionsfirmen und Protagonisten längst begriffen. In einigen Dating-Sendungen gibt es dafür sogar extra eingerichtete Räume, in denen Teilnehmende ungestört – mit Kamera auf sie gerichtet – Sex haben können. Die tragen dann Namen wie „Boom Boom Room“.
Inszenierte Dramen und Schnitte verschärfen Konflikte künstlich. Protagonisten wie Tara Tabitha lernen schnell, dass sie keine Kontrolle über den Schnitt haben. „Du redest acht Stunden, am Ende erscheinen 15 Minuten.“ Als sie sich erstmals im Fernsehen sieht, bekommt sie einen Schock. Da waren die nächsten Folgen schon abgedreht. „Ich hatte zwei Möglichkeiten: Entweder höre ich auf und mir hängt die Blamage nach oder ich nutze das für mich.“ Und so startet ihre Karriere, in der auch besonders extreme Szenen öffentlich gezeigt werden. Tabitha erinnert sich an einen Vorfall mit 17, als ein unbeabsichtigter Nippelblitzer unzensiert ausgestrahlt wurde: „Ich dachte, das muss ich ertragen.“
Ebenso spiele unfreiwillige Komik eine Rolle, etwa bei Aussagen wie „Was zählt, ist die Gebildetheit“ – eine neue Wortschöpfung. Zudem locke das „Confrontainment“: Lautstarke oder gewaltvolle Streitigkeiten sorgen für Spannung. Voyeurismus, Fremdscham und Erotik vereinen sich zu einem emotionsgeladenen Mix, der fesselt. Reality-TV biete Eskapismus pur: eine Flucht aus dem Alltag in fremde Dramen und profane Konflikte. Unerwartete Wendungen und emotionale Ausbrüche lenken von eigenen und gesellschaftlichen Problemen wie Ukraine-Krieg und zunehmende Umweltkatastrophen ab.
Alter unter der Lupe: „Mit 31 bin ich schon Ablaufware“
Werden die kontroversen Szenen ausgestrahlt, bleibt ein mediales Echo selten aus. Auch Tara Tabitha habe viel Kritik oder „Hate“ (Deutsch: Hass), wie sie es nennt, bekommen. Spurlos gehe das an niemandem vorbei. „Wenn dir 1000 Leute sagen, du bist scheiße, beginnst du auch an dir zu zweifeln.“ Noch heute werde sie beleidigt, vor allem für ihr Äußeres. „Mit 31 möchten mich manche schon als Ablaufware betiteln.“ Über die Jahre habe sie sich daher eine harte Schale angelegt. „Ich weiß, wer ich bin. Meiner Zukunft steht mein Alter nicht im Wege.“ Rückzug bietet ihr London, dort sei sie 2015 hingezogen: „Da bin ich normal und kann mich unerkannt bewegen.“
„Wenn dir 1000 Leute sagen, du bist scheiße, beginnst du auch an dir zu zweifeln.“
Aufhören kommt für sie aktuell nicht infrage. Reality-TV habe ihr gezeigt, dass die Welt der Reichen und Schönen nicht unerreichbar ist. In ihrem ersten eigenen Format „Tara und Moni“ sollte sie einen Millionär finden, der sie mit nach St. Tropez, St. Moritz und Monaco nimmt. Eine neue Welt für sie. „So habe ich Luxus kennengelernt. Ich komme vom Bauernhof in Hollabrunn aus eher ärmlichen Verhältnissen.“
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Reality-TV ist zu ihrem Beruf geworden. „Es macht mir Spaß und die Shows bringen gutes Geld.“ Doch das ist nur ein Teil ihres Jobs. Sie nutzt ihre Reichweite auf Instagram auch für Werbekooperationen und eigene Produkte wie ein Getränk und eine Modekollektion. „Wenn man viel draus macht, kann man andere Einkommensquellen und Geschäfte starten.“ Nur rund 50 Prozent ihres Einkommens kommen aus den Gagen der Reality-Formate. Wie hoch diese genau sind, möchte sie nicht verraten. Nur so viel: Es sei ein gut laufendes Geschäft. Auch 2025, so viel ist sicher, wird es weitere Formate mit ihr geben.
Wiedervermarktung: Von der Reality-Show zum Influencer
Während Tara Tabitha zu jenen gehört, die in diese Branche eher herein gestolpert sind, nutzen die meisten die Formate mittlerweile bewusst als Sprungbrett in die Öffentlichkeit: Raus aus dem drögen Job, rein in den bezahlten Urlaub und danach, so der Algorithmus will, auch der Start einer Influencer-Karriere. „Es gibt eine Wechselwirkung zwischen sozialen Medien und Reality-Formaten“, wie Joan Bleicher einordnet. Die Übergänge zwischen der realen Welt und den Shows sind schon längst nicht mehr erkennbar. So schleppen sich Konflikte, die in den Shows begonnen haben, mit in das Leben außerhalb und umgekehrt.
Für viele bleibt die Teilnahme an einer Dating-Show kein Einzelfall. Die Protagonisten werden wiedervermarktet: Kennenlernen bei „Love Island“, bei „Couple Challenge“ miteinander gegen andere Paare antreten, Beziehung testen bei „Temptation Island“, bei „Prominent getrennt“ über die schmerzhafte Trennung sprechen und bei „Ex On The Beach“ wieder auf den Ex-Partner treffen: So könnte der Werdegang eines Reality-Stars aussehen. Und so wird man auch als Zuschauer schneller als gedacht in den Bann einer vermeintlichen Realität gezogen. Die Faszination bleibt: Drama, Liebe, Eskapismus und der Blick auf die Schwächen anderer fesseln.