Bottrop. Vor 125 Jahren entstand das Ruhrgebiet mit seinem „reichen Süden“ und dem „dreckigen Norden“. Wurde der Emscherraum bewusst geopfert?
War die Spaltung des Ruhrgebiets in einen „reichen Süden“ und einen „dreckigen Norden“ eine bewusste Entscheidung? Gefällt von den Mächtigen des Jahres 1899. Über vier Jahre lang sind zwei Wirtschaftshistoriker dieser Frage nachgegangen, haben die Archive von Unternehmen, Städten und Land durchsucht nach Hinweisen. Und natürlich haben sie die Geschichte der Emschergenossenschaft durchleuchtet, die diese Studie in Auftrag gegeben hat anlässlich ihres 125-jährigen Bestehens. Denn die Emscher ist das Opfer in diesem historischen Krimi – und mit ihr die Städte, die sie durchströmt.
Die wichtigste These zuerst: Die Nord-Süd-Trennung entstand mitnichten durch die heutzutage viel zitierte A40, die mitten durch die Region führt, erklären die Autoren. Vielmehr sei die Zweiteilung bewusst entschieden worden. Im Zuge der Kanalisation der Emscher habe man beschlossen, diese als „flüssig-toxische Demarkationslinie“ festzulegen. Die Emschergenossenschaft, die zu diesem Zweck gegründet wurde, „war deshalb Teil einer ‚inneren Kolonisierung‘ des Industriegebiets“, sagt Dr. Lutz Budrass von der Ruhr-Uni Bochum. Das ist überraschend, denn bislang wurde die Entstehung des Ruhrgebiets mitsamt seiner Teilung als Notwendigkeit beschrieben:
Die Steinkohle lag im Süden des Reviers nahe der Oberfläche, die geologischen Schichten fallen gen Norden ab. Darum begann der Bergbau im Süden und wanderte nordwärts, während zugleich die Industrialisierung Schwung nahm und die Bevölkerung rasant wuchs. Als der Bergbau im Süden „durch“ war, konnte dieser Raum um die Ruhr herum sich früher wirtschaftlich und als Wohnregion neu aufstellen. Einfach gesagt: Das Soziale folgt den Flözen.
Alternativlose Kanäle?
Es kommt hinzu: „Wegen des Bergbaus konnten keine unterirdischen Kanäle gebaut werden“, sagt Frank Obenaus, Technischer Vorstand der Emschergenossenschaft. Die Emscher-Gewässer seien wild als Kloaken missbraucht worden. „Die Folge waren Überschwemmungen mit ungereinigten Abwässern. Der technische Ausbau der Emschergewässer zu offenen Schmutzwasserläufen war daher alternativlos.“ Dieser Interpretation aus technischer Sicht widersprechen die beiden Autoren allerdings, zumindest teilweise.
„Die technische Lösung wurde verquickt mit der gewünschten sozialräumlichen Trennung“, erklärt Eva-Maria Roelevink, Professorin für Wirtschaftsgeschichte an der TU Bergakademie Freiberg. Es beginnt damit, dass die Pläne für eine Kanalisierung der Emscher jahrzehntelang in der Schublade lagen. Nicht die Beherrschung der grassierenden Krankheiten Typhus, Cholera oder Ruhr habe im Vordergrund gestanden. Allenfalls die Wurmkrankheit sei damals „hochgejazzt“ worden, weil man sie polnischen Arbeitern zuschrieb, die sie eingeschleppt hätten. Die Kanalisierung des Schmutzwassers im nördlichen Revier sei erst beschlossen worden, als das Kaiserreich seine „Polenpolitik“ umstellte. Der starke Zuzug polnischer Arbeiter erschien den Herrschenden bedrohlich, erklärt Budrass. Nach einem Arbeiterstreik erkannten sie die Chance, das Revier neu zu ordnen, um die Arbeiter besser zu beherrschen.
Dazu passt ein Dokument, das die beiden Historiker gefunden haben. Der preußische Innenminister verordnete 1907, dass Bottrop und Buer niemals Städte werden sollten, obwohl sie die nötige Einwohnerzahl eigentlich schon erreicht hatten. Vorgeschobener Grund: Die Bevölkerung sei überwiegend polnisch. Hinter diesem Entschluss stecke allerdings auch ein Plan der südlichen Ruhr-Städte, erklärt Roelevink: Das damals noch unabhängige Altenessen forderte von seinem südlichen Nachbarn Essen Geld für die Durchleitung von Schmutzwässern. Doch Essen konnte sich die Kosten sparen, weil Altenessen nicht unabhängig werden sollte.
Das Münsterland als Rieselfeld
Bei der Konferenz, aus der die Emschergenossenschaft hervorging, sei auch die technische Lösung der offenen Kanäle keineswegs selbstverständlich gewesen, erläutert Roelevink: „In anderen Regionen gab es bereits Abwässersysteme. Die Errichtung eines Trennsystems stand zur Diskussion. Auch ein Radialsystem wie in Berlin, wurde erwogen. Man dachte sogar ernsthaft darüber nach, das Münsterland zu einem gigantischen Rieselfeld zu machen.“ Schließlich habe man auch die Nebenflüsse der Emscher im Norden ganz anders behandelt als im Süden. Dort seien geschlossene Kanäle angelegt worden. Im Norden habe man „das günstigste, was man machen kann“, gewählt.
Aber wer hat diese Entscheidungen gefällt, die die Region bis heute prägen? Wer hat das Ruhrgebiet erfunden?
Entscheidend waren zwei Stimmen: Der mächtige Essener Oberbürgermeister Erich Zweigert und Emil Kirdorf, der zwar als Vertreter des Kreises Gelsenkirchens für den Norden sprach, tatsächlich aber eine weitere viel wichtigere Funktion hatte. Als Generaldirektor der Gelsenkirchener Bergwerks-AG und Vorsitzender des Rheinisch-Westfälischen Kohlen-Syndikats war er das Sprachrohr der Industrie. Die Wissenschaftler glauben, dass die beiden sich abgesprochen hatten, um in der Gründungsdiskussion den Ton anzugeben.
Eine „Bad Bank“ für all den Schmutz
„Federführend waren die Südstädte nebst den mächtigen Landräten in den dortigen Kreisen“, erklärt Roelevink. „Gemeinsam mit den Unternehmen schmiedeten sie sich eine selbstverwaltete ‚Bad Bank‘, die die Verantwortung externalisieren und den Schmutz aus dem Industrierevier schaffen sollte“: die Emschergenossenschaft als neuartige öffentlich-rechtliche Körperschaft, die in einem hohen Maß selbständig agieren konnte. „Die Emscher war somit privatisiert und man konnte dort alles ablassen.“ Profiteure dieser neuen „Genossenschaft“ waren laut den Wissenschaftlern vor allem die großen Südstädte der Region: unter anderem Dortmund, Bochum, Essen und Duisburg – sowie die dort ansässigen Unternehmen.
Das Ergebnis ist bekannt: Die Ruhr wurde sauber und durfte der Region später sogar ihren Namen geben. Die Emscher dagegen wurde für die Abwässer der gesamten Region geopfert. Sie wurde zur „Cloaca Maxima“ – auch für die damals noch wenig geklärten Abwässer der Industrie. Neu ist dabei vor allem, dass den damals „Mächtigen“ die Konsequenzen ihrer Entscheidung offenbar bewusst waren. Der Süden der Region durfte sich normal entwickeln, der Norden aber würde den Dreck der Region atmen müssen. In der Folge würde die Emscherregion über lange Zeit vernachlässigt werden. Die Autorin und der Autor beschreiben dies als gezielten Eingriff.
Der Sozialäquator
Dazu sind zahlreiche Studien erschienen, die meist die A40 als „Sozialäquator“ der Region beschreiben. Nördlich liegt bis heute die Arbeitslosenquote höher, deutlich weniger Kinder schaffen den Übergang zum Gymnasium. Auch was die Kaufkraft angeht, landeten Gelsenkirchen und Herne (mit Duisburg) erst Anfang Dezember im Bundesvergleich auf den hinteren Plätzen.
Aus den Recherchen von Roelevink und Budrass will die Emschergenossenschaft Lehren ziehen. „Wir sehen die Erkenntnisse aus der Publikation als Auftrag, mehr denn je die Fehler der Vergangenheit wiedergutzumachen“, sagt Uli Paetzel, Chef der Emschergenossenschaft. „Wir betrachten es als unsere Pflicht, den Norden des Ruhrgebietes sozial und ökologisch wieder aufzuwerten, sodass es zukünftig keinen Nord-Süd Unterschied mehr geben wird – weder durch die A40 noch durch die Emscher.“
Das Buch zur Studie kann man als pdf frei herunterladen. „Die Macht der Entwässerung – die Emschergenossenschaft und die Erfindung des Ruhrgebiets“ von Prof. Dr. Eva-Maria Roelevink und Dr. Lutz Budrass ist im „transcript Verlag“ erschienen.