Essen. In Afghanistan konnte Shayesta keinen Abschluss machen. In Essen holt sie ihn nun nach, während sie schwanger ist. Wie sie anderen Mut macht.

Vor seinem Tod sagte ihr Vater ihr, dass sie im Leben alles schaffen kann. Das möchte Shayesta Rohi ihm nun beweisen. In ihrer Heimat Afghanistan hat sie bis zur neunten Klasse ein Gymnasium besucht. Mit 18 heiratete sie ihren Mann und kam kurz darauf mit ihm nach Deutschland – ohne Schulabschluss. Hier wurde sie schwanger, kümmerte sich jahrelang um ihre autistische Tochter. Heute ist Shayesta Rohi 29 Jahre alt und erneut schwanger. Gerade holt sie ihren Hauptschulabschluss an der Volkshochschule in Essen nach. Ihr Weg dahin war schwer. Im Protokoll erzählt sie, wie sie ihre Ängste überwunden hat und warum sie anderen Frauen mit ihrer Geschichte Mut machen möchte.

„In Afghanistan könnte ich heute keine Schule mehr besuchen. Nach der Machtübernahme der Taliban dürfen Mädchen nur noch zur Grundschule gehen. Eine Uni besuchen oder gar Arbeiten gehen ist erst recht nicht mehr möglich. Ich dürfte mich ohne meinen Mann noch nicht einmal alleine im Park aufhalten.

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Zum Glück leben wir nun schon seit etwa zehn Jahren in Deutschland. Als ich hier angekommen bin, habe ich direkt eine Sprachschule besucht und meinen Führerschein gemacht. Dann kam meine Tochter zur Welt – mit der Diagnose Autismus. Die ersten sechs Jahre mit ihr war ich deshalb sehr eingespannt. Es gab aber immer diese eine Stimme in mir, die mir sagte, dass ich etwas aus meinem Leben machen muss.

Mein Mann und meine Schwiegereltern haben mich schließlich dazu ermutigt, meinen Schulabschluss nachzuholen. Ich habe mir erst nicht zugetraut, dass ich das schaffen würde. Zitternd habe ich beim Arbeitsamt gesessen. Auch dort sagte man mir, dass es sehr schwierig für mich werden würde, weil das deutsche Schulsystem ganz anders ist als in Afghanistan. Das hat mir noch mehr Angst gemacht.

Die gebürtige Afghanin Shayester Rohi hat einen Schulabschluss
Die gebürtige Afghanin Shayesta Rohi (29) holt an der VHS in Essen ihren Hauptschulabschluss nach. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

Lange Zeit habe ich in mir kein Talent gesehen. Die ersten Tage in der Schule war ich super unsicher. Ich kannte das Schulsystem nicht und wusste zum Beispiel nicht, wie man mit einem Laptop arbeitet. Doch das Ziel, das ich vor meinem inneren Auge hatte, hat mir geholfen: Ich möchte meine beiden verstorbenen Eltern stolz machen. Außerdem möchte ich ein Vorbild für meine Kinder sein, ihnen später zum Beispiel bei den Hausaufgaben helfen können.

Nach dem Hauptschulabschluss möchte ich noch den Realschulabschluss und am liebsten auch das Abitur machen. Mein Traum ist es, zu studieren und später in der Gentechnik zu arbeiten. Auch wegen des Gendefekts meiner Tochter. Deshalb habe ich immer weiter gemacht, auch, als ich während meiner Klausurenphase ganz schlimme Schwangerschaftsübelkeit hatte. Es gab Tage, an denen ich dachte, ich schaffe das nicht mehr.

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Aber ich habe so viel in meinem Leben geschafft. Deshalb werde ich nicht aufgeben. Mittlerweile habe ich das Gefühl, dass ich hier genau richtig bin. Meine Mitschülerinnen und Mitschüler kommen aus vielen verschiedenen Nationen, wir unterstützen uns gegenseitig. Wir sind wie eine große Familie. Für andere Frauen möchte ich ein Vorbild sein. Es gibt so viele kluge Frauen, die aus Afghanistan hierhergekommen sind, die sich aber nicht zutrauen, zur Schule oder zur Arbeit zu gehen. Einfach, weil sie es nicht gelernt haben. Ich möchte ihnen gerne zurufen, dass sie keine Angst haben müssen und dass sie alles schaffen können. Genauso wie mein Vater das bei mir gemacht hat.“