Essen. Bayern macht Sport in Schulen zur Pflicht. NRW (noch) nicht. Einigen Grundschulen fehlen hierzulande sogar Sporthallen. Welche Lösungen es gibt.
Nur das laute Kinderlachen verrät, dass sich inmitten der grauen Betonmauern ein Schulhof verbirgt. Ansonsten scheint der Eingang zur Joachimschule eher wie eine weitere Einfahrt in einen der Wohnkomplexe im Essener Stadtteil Kray. Die Kinder aus der zweiten Klasse laufen auf den Schulhof. Emelie (23) und Christina (22) bilden einen Kreis und machen ein Ruhe-Zeichen. Es dauert eine Weile, bis das bei den Kindern ankommt. Einigen fällt es sichtlich schwer, stehen zu bleiben. Doch dann nehmen sie sich an die Hände: „Spielzeitmobil!“, rufen alle im Chor. Die beiden Studentinnen besuchen jeden Montag für eine Schulstunde mit dem Bewegungsmobil voller die voller Bälle, Matten, Seile, Schwungtücher, Inline-Skates und Kreide die Joachimschule. Für eine Schulstunde können sich die Kinder unter Anleitung hier so richtig auspowern. „Wer möchte anfangen mit Fangen?“, fragt Christina. Alle Finger gehen nach oben.
„Bei vielen Kindern sehen wir, dass sie sich am Wochenende wenig bewegt haben“, sagt Schulleiter David Stawowy. „Die Familien hier im Stadtteil haben oft viele Kinder, für sie ist es teils schwierig, allen Bedürfnissen gerecht zu werden.“ Einige Eltern hätten zudem Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache, für sie sei es schwer, sich über Freizeitangebote zu informieren. „Gerade montags bringen die Kinder daher viel Energie mit in die Schule“, sagt Stawowy. Das Bewegungsmobil unterstütze sie dabei, sich im Unterricht besser zu konzentrieren. „Es ist hier nicht mehr wegzudenken.“
Die Grundschule liegt in einem herausfordernden Stadtteil, fast alle Kinder haben hier einen Migrationshintergrund. Um die Schule herum ist es dicht bebaut, es gibt wenig Grün. Der Schulhof selbst ist nicht besonders groß, aber es gibt eine Tischtennisplatte, ein Klettergerüst und Platz zum Kicken. Sogar an der Backsteinwand des Gebäudes ist eine Kletterwand befestigt. David Stawowy schaut sich um. „Wir nutzen jeden Raum für Bewegung, der uns zur Verfügung steht.“
Viele Schulkinder müssen mit dem Bus zu ihrer Turnhalle fahren
Wie vielen Grundschulen im Ruhrgebiet hat die Joachimschule keine eigene Turnhalle. Für den Sportunterricht müssen die Schüler erst zehn Minuten zu der nächstgelegenen Halle laufen. In Essen haben etwa 32 von 84 Grundschulen keine eigene Sporthalle, sagt Ulf Gebken vom Institut für Sport- und Bewegungswissenschaften an der Universität Duisburg-Essen. Teilweise müssten die Schülerinnen und Schüler erst längere Strecken mit dem Bus fahren, um zur nächsten Turnhalle zu kommen. Doch gerade in herausfordernden Stadtteilen seien die Kinder auf Bewegung in der Schule angewiesen. So zeigten sich hier bereits bei den Schuleingangsuntersuchungen, dass viele von ihnen Probleme mit ihrer Bewegung haben.
Kinder und Jugendliche bewegen sich insgesamt zu wenig, zeigt eine Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung. Die körperliche Aktivität sei mit Beginn der Corona-Pandemie drastisch gesunken. Betroffen sind vor allem Kinder im Alter zwischen acht und zwölf Jahren. „Der Bewegungsmangel, insbesondere bei Grundschulkindern, ist dramatisch“, sagt Ulf Gebken. „Leider fehlen in NRW nach wie vor Sporthallen, Lehrkräfte und ausreichend Platz auf den Schulhöfen.“ Durch die fehlende Bewegung hätten viele von ihnen Probleme, sich im Unterricht zu konzentrieren und still zu sitzen. Auch Übergewicht sei ein großes Thema.
Verpflichtende Bewegungszeit auch an NRW-Grundschulen?
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hat deshalb kürzlich für jeden Tag eine verpflichtende halbe Stunde Bewegungszeit für alle Grundschüler angekündigt. Parallel zum Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung müsse für den Nachmittag sportliche Betätigung verbindlich eingeplant werden, hatte Söder Ende September erklärt. NRW will offenbar keine solche tägliche Bewegungszeit verordnen.
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Was braucht es in NRW?
Eine einheitliche Regelung wie in Bayern sei nicht notwendig, sagt Gebken. Auch sollten andere Schulfächer dadurch nicht zu kurz kommen. „Wichtig ist, dass Bewegung im Schulalltag ausreichend integriert wird – sei es durch Achtsamkeitstraining im Klassenraum oder die Matheaufgaben mal im Liegen zu lösen.“ Zudem bräuchten Schulen mehr Kooperationen mit Sportvereinen und Fitnessstudios, um nachmittags mehr Sport-AGs anbieten zu können. Ein weiterer wichtiger Ansatz sei das Projekt „Open Sunday“. Hierbei können Kinder und Jugendliche aus benachteiligten Vierteln sonntags kostenlos die Sporthallen in ihrem Stadtteil nutzen.
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Zudem brauche es Projekte wie das Spielzeitmobil, das der Bewegungsexperte ins Leben gerufen hat. Es fährt unterschiedliche Grundschulen an, vorrangig die, die keine eigene Sporthalle haben. Die Studentinnen Emelie und Christina etwa entscheiden je nach Wetter und Klassenstufe, was gespielt wird.
Alle machen mit, wer hinfällt, steht wieder auf
Heute haben sie jeweils drei Parcours aus kleinen Plastikhütchen und Hula Hoop Reifen aufgebaut. In Teams stehen die Kinder in einer Schlange und feuern sich gegenseitig an. Wer durch ist, klatscht das nächste Kind ab. Alle machen mit, wer mal hinfällt, steht einfach wieder auf. Und dann kommt der Part, auf den alle gewartet haben: Stopptanz. Zu „I like to move it, move it“ und Shakiras „Waka Waka“ hüpfen und springen sie um die Wette.
Als die Stunde vorbei ist, klopfen sich alle Kinder selbst und ihrem Nachbarn auf die Schulter. Dann kommen sie wieder im Kreis zusammen und nehmen sich an die Hände: „Spielzeugmobil!“ Mit roten Wangen und leuchtenden Augen geht es für einige jetzt weiter in den Förderunterricht. Und Schulleiter Stawowy weiß: „Wenn die Kinder gleich wieder zurück im Klassenraum sind, wird es ihnen leichter fallen, sich zu konzentrieren und im Unterricht mitzumachen.“
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