Essen. Ausgerechnet nach dem Schock-Sieg des Republikaners leistet sich Deutschland eine Regierungskrise. Für uns wird 2029 zum Schicksalsjahr.
Angst ist ja nie ein guter Ratgeber. Aber ich muss schon zugeben, dass ich die Nachrichten aus den USA am Mittwochmorgen mit außergewöhnlich großer Sorge wahrgenommen habe. Mir war von Anfang an klar, dass die weltpolitischen Folgen enorm sein könnten, sollte der frühere US-Präsident Donald Trump noch einmal an die mächtigsten Schalthebel gelangen, die es auf diesem Planeten gibt. Es war mir auch kein Trost, dass die meisten Menschen um mich herum ähnlich denken. Selbst in den sozialen Netzwerken, in der Regel kein Hort des vernünftigen Innehaltens, um es vorsichtig zu formulieren, war der Schock eindeutig, drängte eine gewisse Lähmung den sonst üblichen Lärm zurück.
„In der Zukunft haben wir es mit einer Reihe von autoritären Regierungen zu tun, und die USA werden sich dort einreihen“, schrieb etwa Andreas Kerstan auf unserem zentralen WAZ-Facebook-Account. Lusse Katt sekundierte, die Welt sei durch die Wahl Trumps „einen gewaltigen Schritt näher an den Abgrund gerückt“. Eine Userin, die sich „Kleines Stiefmütterchen“ nennt, formulierte ihr Unverständnis, „wie eine halbe Nation diesen Mann wählen konnte“, und fügte hinzu: „Meine Sorge für unsere Kinder und Enkelkinder wächst.“
Wittener im US-Wahlkampf
Viele junge Menschen haben verstanden, was für eine Zäsur das Comeback Trumps gerade für sie bedeutet. Von der „vielleicht wichtigsten Wahl in unserer Generation“ spricht etwa der Wittener Student Victor Wolff. Der 23-Jährige ist mit einem Freund vor einiger Zeit sogar selbst in die USA gereist, um dort im Wahlkampf aktiv die demokratische Partei und Trumps Gegenkandidatin Kamala Harris zu unterstützen: „Der Klimawandel, die Kriege im Nahen Osten und in der Ukraine, der Schutz der Rechtsstaatlichkeit – all das hängt direkt mit dem Ausgang der Wahl zusammen“, weiß er.
Und nun? Nun ist passiert, was nicht passieren durfte, und ich beobachtete mich im Laufe des Mittwochs selbst dabei, wie ich versuchte, mich in diese politische Katastrophe hineinzufühlen, mich mit der Realität schrittweise abzufinden. Vermutlich ist es in solchen Situationen menschlich, wenn man beim Spaziergang durch den dunklen Wald anfängt zu pfeifen: Hatten wir nicht schon einmal eine Trump-Regierung überstanden? Könnte nicht sogar Bewegung in den festgefahrenen Krieg in der Ukraine kommen? Und müssten die Europäer nicht so oder so mehr Verantwortung übernehmen und enger zusammenrücken, weil sich die USA – und das würde unter Harris kaum anders sein – mehr auf sich selbst konzentrieren werden? Deutschland müsste als größte Nation in Europa vorangehen. Deutschland würde als Stabilitätsanker noch wichtiger.
Scholz mit X-fach-Wumms
Doch dann wurde es Abend. Bundeskanzler Olaf Scholz trat vor die Presse und hielt plötzlich eine Wutrede, die mich dazu brachte, ganz nah an den Fernseher heranzurücken. Handelte es sich wirklich um „unseren“ Scholzomat oder doch eher um eine KI-Simulation der Russen – man weiß ja nie? Scholz warf seinem Noch-Finanzminister verschiedene Charakterlosigkeiten vor, genauer: Kleinkariertheit, Anstandslosigkeit, mehrfachen Vertrauensbruch. Es war eine beispiellose Tirade, eine Scheidung mit X-fach-Wumms, die ein Maß an Zerrüttung zwischen zwei bisherigen Koalitionspartnern offenbarte, das ich so nicht für möglich gehalten hätte. Ausgerechnet an diesem historischen Tag platzte die Ampelkoalition. Ausgerechnet jetzt fiel Deutschland aus, für Wochen, vielleicht für Monate. Und ich ging mit der Erkenntnis ins Bett, dass es immer noch schlimmer kommen kann.
Am Donnerstag wachte ich mit einem entsprechenden politischen Kater auf. Gedanklich war ich wieder in den USA und bei der Frage, was für eine Nation das eigentlich ist. Amerika war für mich immer etwas Besonderes, etwas im Zweifel zu Bewunderndes. Wer als Kind in den 70er und 80er Jahren aufgewachsen ist, der hat über US-Spielfilme und -Serien im deutschen Fernsehen ein Bild vermittelt bekommen, das Amerika zu einem Sehnsuchtsort machte, an dem das doppelte „F“ dominiert: Freiheit und Fortschritt.
Welches „F“ ist es jetzt? Faschismus?
Plant Trump „Säuberungsaktion“?
Die Kolleginnen und Kollegen der „Los Angeles Times“, die von ihrem Eigentümer noch davon abgehalten worden waren, eine Wahlempfehlung für Harris abzugeben, sehen jetzt in einer Kommentierung den „Autoritarismus in den USA angekommen“. Schlimmer noch: „Millionen unserer Mitbürger“ hätten ihm „ihre Stimme gegeben“, heißt es in dem Blatt. Das „mächtigste Amt der Welt“ werde „von einem verurteilten Verbrecher bekleidet“. Man möchte ergänzen: von einem Sexisten und Rassisten, der eine Wahlniederlage nicht anerkannt hat und auch diesmal nicht anerkannt hätte, der seinen Gegnern mit Gewalt und Vergeltung droht und der den bisherigen Staatsapparat, der während seiner ersten Amtszeit das Schlimmste verhindert hat, schreddern könnte. Bis zu 50.000 Staatsbedienstete könnten ausgetauscht werden. Es wäre die „Säuberungsaktion“ eines antidemokratischen Regimes, wie es im Buche steht.
Was es besonders bitter macht: Es war kein Putsch, es war eine demokratische Wahl. Es wäre in der Menschheitsgeschichte nicht das erste Mal, dass ein Diktator auf legale Weise an die Macht gelangt ist, um die Demokratie danach abzuschaffen. Und es könnte eine Blaupause sein für andere wankende Demokratien. Was aber, und diese Frage lässt mir noch mehr graue Haare wachsen, als ich schon habe, veranlasst mehr als jeden zweiten Wähler dazu, einen solchen Mann an die Spitze von Staat und Regierung zu wählen, der in würdeloser und vulgärer Weise Hass und Lügen verbreitet? Glaubt eine Mehrheit in Amerika tatsächlich, dass Migranten Haustiere essen? Mein sich selbst als konservativ bezeichnender Kolumnisten-Kollege Nikolaus Blome vom „Spiegel“ formulierte es im Hinblick auf die gebildeten Konservativen in den USA so: „Ich frage mich, wie sich das anfühlt, sonntags seinen Kindern zu predigen, dass sie nicht lügen sollen – und dann Trump zu wählen.“
Parallelen zu Deutschland
Nein, dieses Amerika bewundere ich nicht; es ist mir fremd, es ist mir unheimlich und unsympathisch, auch wenn es da noch immer eine anständige Zivilgesellschaft gibt, die wir nicht aufgeben sollten und die sich in den kommenden Jahren hoffentlich nicht selbst aufgibt. Im Moment ist sie in der Minderheit. Kann uns das auch in Deutschland passieren?
Es gibt Parallelen, und es gibt Unterschiede. Eine Parallele ist sicherlich, dass es weite Teile der Bevölkerung in den USA wie in Deutschland gibt, die den sozialen Abstieg fürchten und sich ungerecht behandelt fühlen. Man muss hier konstatieren, dass die linksliberalen Parteien hüben wie drüben insofern versagt haben, dass es ihnen nicht mehr gelingt, die sogenannten kleinen Leute an sich zu binden. Arbeiterinnen und Arbeiter wählen in den USA eher die Republikaner als die Demokraten und in Deutschland eher AfD und BSW statt, wie früher, die SPD, obwohl gerade die AfD eine neoliberale Wirtschaftspolitik verfolgt, die im Zweifel die Reichen reicher und die Armen ärmer macht. Nur hat das noch keiner so richtig gemerkt.
Scholz droht nicht mit der Bundeswehr
Der Unterschied zu den USA ist, dass ein Friedrich Merz und sogar ein Markus Söder nicht behaupten würden, dass in unseren Nachbarländern Irrenhäuser geleert werden, um so massenweise Migranten zu uns zu schicken, und dass ein Olaf Scholz seinen politischen Gegnern nicht damit drohen dürfte, dass sie bald in Gewehrläufe blicken – nicht einmal dem frisch geschiedenen „Ex“ Christian Lindner. Mit anderen Worten: Wir haben in Deutschland zum Glück noch eine ganz andere politische Kultur; und die hat sich auch nicht durch den kalkulierten Ausbruch des Kanzlers vom Mittwochabend verändert. Das war nur eine Momentaufnahme, der vermutlich nicht nachhaltige Versuch eines Befreiungsschlages.
Übrigens gibt es auch einen ganz pragmatischen Grund dafür, dass der kommende Wahlkampf in Deutschland keine Schlammschlacht wird – und jetzt müssen die Gegner der „Ampel“, die so sehr frohlocken über deren Scheitern, ganz tapfer sein: Ganz ohne SPD und/oder Grüne nämlich wird auch ein Bundeskanzler Merz nicht auskommen, um eine Regierungsmehrheit zu erlangen. Mit der FDP jedenfalls wird es nicht reichen, wenn sie nicht gar demnächst der außerparlamentarischen Opposition angehört. Auch wenn Olaf Scholz also als aktiver Politiker bald Geschichte sein dürfte: Mit dem einen oder anderen seiner Ampel-Minister gibt es schon bald ein mehr oder weniger fröhliches Wiedersehen.
Das Herum(h)ampeln geht weiter
Einfacher wird das Regieren freilich nicht, wenn Trump seine wirtschafts- und sicherheitspolitischen Drohungen in die Tat umsetzt, was sehr teuer für uns werden dürfte. Manch einer schaut darum auch schon mit wachsender Sorge auf die übernächste Bundestagswahl, regulär im Jahre 2029. Denn ohne mehr Kompromissfähigkeit werden Parteien, die per se nicht besonders gut zusammenpassen, wie das CDU/CSU und FDP tun würden, weiter herum(h)ampeln. Das stärkt dann wiederum die politischen Ränder und bringt uns amerikanischen Verhältnissen näher.
Hoffen wir also auf mehr Vernunft und weniger ideologische Egoismen in einer neuen deutschen Bundesregierung. Sonst wachen wir eines Tages wirklich in einem ganz anderen Land auf, so wie die Amerikaner vor wenigen Tagen.
Auf bald.
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