Herne/Bochum. Jörg stottert seit Kindheitstagen. Erlebt hat er Vorurteile und Ablehnung. Sein Leben bestimmt das nicht mehr. Wie er das geschafft hat.
Stellen Sie sich vor, Sie stehen vor einem Pizzastand auf einer Kirmes. Sie sind noch ein Kind, voller Vorfreude auf eine Pizza Salami. Doch als Sie das Wort Salami aussprechen möchten, passiert – nichts. Das Wort bleibt in Ihrem Hals stecken, die Leute hinter Ihnen schauen, die Sekunden scheinen zu endlosen Minuten zu werden. Irgendwann hilft jemand und sagt, was Sie nicht herausbringen können: „Eine Pizza Salami für den Jungen, bitte.“
Jörg Heyden stottert seit Kindheitstagen. Heute ist er 43 Jahre alt. Spricht fast flüssig. Nur in einigen Momenten ist der Redefluss noch unterbrochen, bleibt er an einem Laut hängen, den er mehrfach wiederholt. Aber das Gefühl von Hilflosigkeit, das er als kleiner Junge auf der Kirmes empfunden hat, schmerzt noch heute. „Man denkt, die halbe Welt guckt einem gerade zu: Der Idiot, wieso sagt er das denn jetzt nicht endlich? Aber ich wusste ja ganz genau, was ich sagen wollte.“ Es ist nur eines von vielen Erlebnissen, die sich eingebrannt haben. Aber das Stottern bestimmt nicht mehr sein Leben.
Jörg aus Herne stottert: „Habe eigentlich alles erlebt, was man erleben kann“
Gleich beginnt die Selbsthilfegruppe für Stotterer in Bochum. Jörg sitzt an dem Holztisch, an dem gleich noch andere Teilnehmerinnen und Teilnehmer Platz nehmen werden. Er legt die Hände ineinander: „Als Kind fragt man sich, ob irgendwas mit einem selber nicht stimmt. Ob man nicht ‚normal‘ ist.“ In jungen Jahren hat Jörg immer die Hoffnung gehabt, dass es eine schnelle Lösung gibt, um das Stottern zu besiegen. Wie eine Pille, die man nimmt und alles ist anders. Doch so einen Weg gibt es nicht. Für ihn war es schwer, das zu akzeptieren.
Jörg hatte Glück. In der Schule und von seinen Freunden wurde er nie ‚schief angeguckt‘, obwohl er im Unterricht teilweise kein Wort herausbekommen hat. „Aber ich weiß, dass andere dafür gemobbt werden, wenn sie stottern“, sagt der Herner. Im Alltag hat er diese Situationen aber leider auch kennengelernt. „Es ist mal ein Blick, ein Lachen oder ein Kommentar. Es gibt fast nichts, was ich nicht erlebt habe. Als Kind und Jugendlicher hat mich das sehr getroffen. Man fragt sich permanent, wie man besser werden kann.“
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Hinzu kommt: Stotternde Menschen ziehen manchmal beim Sprechen Grimassen. Sie spannen die Muskulatur so sehr an, dass die Schmerzen sie wiederum vom Sprechen ablenken. Das ist die Sekundär-Symptomatik. „Ich habe oft erlebt, dass Menschen darüber tuscheln“, sagt Jörg.
„Da habe ich wirklich an mir selbst gezweifelt“
Wie schafft man es, damit umzugehen? „Also wer sagt, ihn trifft so etwas nicht, der würde lügen. Viele fühlen sich von der Gesellschaft nicht wahrgenommen und ziehen sich dann zurück.“ Jörg hat es geholfen, sich auf sich selbst zu fokussieren. Chemie hat ihn immer interessiert, die Ausbildung zum Chemielaboranten hat er mit 16 Jahren sofort bekommen. Doch danach kamen die Probleme.
„Die Vorstellungsgespräche waren schon der Endgegner für mich“, sagt Jörg. Ein Job-Interview wurde schon nach ein paar Minuten abgebrochen. „Ich habe gleich gemerkt, dass sie mich nicht wollten, mich abschätzig angeschaut haben. Sie haben mich gefragt, ob ich denn wirklich für den Job geeignet sei.“ Diese Reaktionen haben Jörg noch nervöser gemacht. Er habe kaum ein Wort mehr herausbekommen.
Was hat das mit ihm gemacht? „Ich war im ersten Moment wütend. Dann enttäuscht. Dann entmutigt. Ich wollte so gerne etwas erreichen, war so motiviert, aber bin immer auf der Stelle getreten und nicht weitergekommen. Da ist es schwierig, sich auch nicht gesellschaftlich komplett zurückziehen. Da habe ich wirklich an mir selbst gezweifelt.“
Das war der Wendepunkt in Jörgs Leben
Das war der Wendepunkt in seinem Leben. Jörg stand vor der Wahl: Aufgeben oder etwas verändern. „Ich habe mich gefragt: Will ich mit Menschen zu tun haben, die so mit mir umgehen? Nein, das wollte ich mir nicht zumuten.“ Jörg hat es geschafft, dass ihm die Meinung von anderen nicht mehr so wichtig ist. Er musste zuerst einen hohen Leidensdruck erfahren, um zu verstehen: Selbstsicherheit ist der Schlüssel. Sie helfe ihm, flüssiger zu sprechen und zu akzeptieren, dass er bei einem Wort manchmal noch stockt. „Nicht ich bin das Problem, sondern die Menschen, die mich zum Problem machen“, sagt er.
„Nicht ich bin das Problem, sondern die Menschen, die mich zum Problem machen.“
Ohne ein starkes Umfeld hätte das aber nicht funktioniert. „Man braucht Rückendeckung und Unterstützung. Die hatte ich zum Glück.“ Und Jörg hat sich mit anderen Stotterern in Selbsthilfegruppen getroffen. Mit ihnen über Therapiemöglichkeiten, positive und negative Erlebnisse im Leben gesprochen. Das habe ihm das Gefühl gegeben, nicht alleine zu sein.
Sein Motto war dann: Wer aufgibt, der hat schon verloren. Und trotzdem hat es nicht sofort geklappt mit dem Job. Jörg hat nach Alternativen gesucht, hat eine Weiterbildung zum Techniker gemacht. Und hat dann einen Job gefunden, nebenbei hat er abends noch studiert. Und er hat sich Hilfe gesucht. „Durch eine Therapie 2012 hat sich mein Sprechen um fast 50 Prozent gebessert, 2019 wurde es noch mal besser.“ Heute hat er das Stottern im Griff, kann fast flüssig sprechen. Das soll auch die letzte Therapie sein, Jörg ist zufrieden, wie es jetzt ist. Er hat angenommen, dass es in manchen Situationen dazu kommen kann, dass ein Wort nicht direkt herauswill, hat Strategien entwickelt, damit umzugehen.
Infos für Betroffene
Die Selbsthilfegruppe für Stotterer in Bochum findet jeden ersten Mittwoch im Monat von 16.30 Uhr bis 18.00 Uhr im Haus der Begegnung, Alsenstraße 19a, statt. Kontakt per E-Mail: Selbsthilfe-stottern-bochum@gmx.de. Jörg Heyden freut sich über neue Teilnehmerinnen und Teilnehmer.
Die Bundesvereinigung Stottern und Selbsthilfe e.V. (BVSS) ist ein gemeinnütziger Verein, gegründet von Stotternden für Stotternde und ihre Angehörigen. Hier können sich Betroffene informieren und auch Unterstützung bei der Suche nach einer Selbsthilfegruppe in der Nähe bekommen. Infos unter: www.bvss.de, per E-Mail unter info@bvss.de oder telefonisch unter 0221 139 1106 (Mo-Fr 10-13 Uhr, zusätzlich Do 16-18 Uhr).
Schränkt Jörg das Stottern heute noch ein?
Im Alltag begegnen Jörg immer noch Vorurteile. „Das Klischee, dass Menschen, die stottern, weniger intelligent sind, hält sich leider hartnäckig.“ Fremde vervollständigen seine Sätze, wenn sie ungeduldig werden, sie lachen, vielleicht aus Unsicherheit. „Es perlt zwar mittlerweile mehr ab, aber es wäre falsch zu sagen, dass ich es gar nicht mehr merke.“ Er wünscht sich mehr Geduld und Toleranz: „Jeder Mensch, der stottert, hat Gefühle. Und auch eigene Gedanken, die er mitteilen möchte.“
Und schränkt ihn das Stottern heute noch ein? Jörg lächelt, wartet einen kurzen Moment mit seiner Antwort: „Ich bin glücklich.“ Vor fünf Jahren hat er Tatjana geheiratet, die beiden wohnen in Herne. „Das Stottern hat nicht mein Leben bestimmt. Ich habe mein Leben bestimmt“, sagt der 43-Jährige. „Ich bin einfach ein Mensch, der manchmal auch stottert.“