Essen. „Ötzi“ ist der wohl bestuntersuchte Todesfall früher Jahrtausende. Doch in Herxheim in der Pfalz wartet ein anderer Urzeit-Tatort auf Klärung.
Herxheim ist eine 10.000-Einwohner-Gemeinde im pfälzischen Landkreis Südliche Weinstraße. 1995 wollten sie hier die wirtschaftliche Kraft durch den Aufbau eines Gewerbegebietes stärken. Kernprojekt: ein großes Möbelhaus. Der Plan alarmierte Archäologen. Unter dem Grundstück des künftigen Geschäfts mutmaßten sie Spuren von Bewohnern, die an dieser Stelle vor über 7000 Jahren siedelten. Die Behörden stoppten zunächst den Baubeginn und ließen den Boden von Archäologen untersuchen. Sie stießen in drei Meter Tiefe auf einen Berg von 75.000 Knochen aus der Jungsteinzeit.
Bald war klar, dass in Herxheim die sterblichen Überreste von mehr als 600 jungen Menschen und Kindern aus dem fünften Jahrtausend vor Christus lagerten, wie die Forscherin Andrea Zeeb-Lanz in zahlreichen Veröffentlichungen berichtet. Die Funde wiesen grausame Übereinstimmungen auf. Fast allen wurde nach dem Tod der Schädel gespalten.
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Ist Herxheim ist nur ein riesiger Friedhof – oder auch ein gigantischer Tatort? Wurden die Opfer erwürgt? Erdrosselt? Vergiftet? War ihr Lebensende Teil einer großen gewaltsamen Auseinandersetzung oder doch eines jungsteinzeitlichen Rituals?
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Solche Fragen schlagen regelmäßig auf, wenn Wissenschaftler auf verborgene Gräber stoßen. Allein 200 Leichen fanden sie im österreichischen Schletz, zusammen mehrere hundert auch im hessischen Main-Kinzig-Kreis, in Talheim, Halberstadt oder Wiederstedt. Mord und Totschlag waren in der Ur- und Frühzeit wohl nicht selten – wie beim vielleicht ältesten Mordfall der Menschheitsgeschichte.
Im Norden Spaniens fand sich 1992 in einem 13 Meter tief ins Erdreich führenden Schacht an der „Sima des Los Huesos“ („Knochengrube“) der Schädel eines jungen Erwachsenen, der vor rund 430.000 Jahren gelebt haben muss. In seinem Stirnbein klafften zwei ein bis zwei Zentimeter große Löcher, die weder mit Sturz, Steinschlag oder Tierbiss zu erklären sind. „Alle Anzeichen deuten auf Schläge mit einem stumpfen, länglichen Gegenstand mit beträchtlicher Masse“ hin, schreibt der Autor Joachim Wahl in seinem Buch „Knochenarbeit“.
Manchmal lassen sich die Rätsel uralter Todesfälle nach einiger Zeit und Anstrengung weitgehend relativ schlüssig beantworten. So ist es im spektakulärsten „Cold Case“ der Frühgeschichte Europas gekommen, dem Fund vom 19. September 1991. Das Nürnberger Bergwanderer-Ehepaar Erika und Helmut Simon entdeckte an diesem Tag am Tisenjoch nahe der österreichisch-italienischen Alpengrenze im Schnee eine Mumie. Größe: etwa 1,60 Meter. Vielleicht 50 Kilo schwer. Die Statur: sportlich-drahtig. Schuhgröße: 38. Er trug zur Lebzeit braunes und struppiges Haar und ist nach Expertenschätzung zwischen 45 und 60 Jahre alt geworden. Sein Name ist weltbekannt. Ötzi, der „Mann aus dem Eis“. Heute ist sicher: Vor 5300 Jahren wurde er das Opfer eines Mordes. Eine kleine Pfeilspitze aus Silex war die Tatwaffe. Ein Feuerstein. Zehn Jahre nach dem ungewöhnlichen Bergabenteuer der Simons haben Fachleute bei einem Röntgen-CT diese zentrale Spur gefunden.
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Professor Oliver Peschel ist Gerichtsmediziner an der Ludwig Maximilians-Universität in München. Er half bei der Identifikation der Opfer des Tsunamis in Thailand, der Brandkatastrophe von Kaprun, bei den Untersuchungen des Kriegsverbrechertribunals nach dem Bosnienkrieg. Seit 2016 gehört er zur Wissenschaftlergruppe aus Ärzten, Kriminologen und Biologen, die die kriminalistische Spurensicherung Ötzis begleitet.
Er sagt: „Wir sind uns sehr sicher, dass er durch einen Pfeilschuss in die Schulter zu Tode gekommen ist. Die Pfeilspitze befindet sich ziemlich exakt in der anatomischen Position, in der man die Schlüsselbeinschlagader erwartet. Mit voller Sicherheit können wir das alles nicht sagen. Aber es gibt keine andere plausible Todesursache“.
Ötzi ruht im Südtiroler Archäologischen Museum in Bozen. Als braun-schwärzliche Mumie liegen dort seine sterblichen Überreste. Besucher – es waren bisher mehr als fünf Millionen – können einen Blick auf die Leiche durch ein Kühlkammer-Bullauge werfen. Der durch die Kälte in mehr als 3000 Meter Höhe gute Erhaltungszustand hat die Arbeit der Kriminalwissenschaft wesentlich erleichtert.
Aus Anatolien eingewandert?
Öffnen wir die Mordakte. Verfolgen wir mithilfe begründbarer Spekulationen die letzte Lebensphase Ötzis und den Ablauf der Tat bis zum gewaltsamen Ende. Es ist irgendwann in den Jahren zwischen 3350 und 3100 vor Christi Geburt. Die Ära der Jäger und Sammler, die durch die Alpen zogen, läuft aus. Unsere Vorfahren haben das Rad erfunden. Bauern sind sesshaft geworden und leben in Stämmen und Familien wie im Eisacktal, das heute von Bozen her zum Brennerpass führt. Hier muss Ötzi aufgebrochen sein und die Route ins Schnalstal eingeschlagen haben.
Vielleicht war das Opfer, das nach Genom-Testergebnissen von 2023 eher dunkelhäutig war und dessen Familie aus dem fernen Anatolien eingewandert sein könnte, auf der Flucht. Vielleicht auch haben Feinde seine Familie oder seinen Stamm ausgelöscht. Er könnte der überlebende Clan-Chef sein. Er will weg.
Es ist Frühjahr, wie die Biologen bei der Ötzi-Forschung festgestellt haben, denn der Mann aus dem Eis hat vor seinem Tod noch Hopfenbuchen-Pollen eingeatmet. Der Weg über den Similaun ist für die Talbewohner zu dieser Jahreszeit üblich und gangbar. Doch Ötzi wird verfolgt. Der Gerichtsmediziner Peschel sagt: „Eindeutig und sicher sind scharfe Verletzungen an der Hand, zwischen Daumen und Zeigefinger. Die Verletzung reicht bis auf den Knochen und hat dort eine Scharte hinterlassen. Wir haben auch Spuren einer Wundheilung gefunden, die Verletzung könnte zwei bis drei Tage vor dem Tod entstanden sein.“
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Reste von Hirschfleisch im Magen
Peschel weiß: „Die Verletzung bei Ötzi ist an einer ganz charakteristischen Stelle der Hand festzustellen. Hier treten typische Abwehrverletzungen auf. Wenn Sie mit einem Messer angegriffen werden und versuchen sich zu verteidigen, dann werden Sie in das Messer hinein fassen“. Die vorsichtige Schlussfolgerung: „Ötzi war zwei bis drei Tage vorher in eine körperliche Auseinandersetzung verwickelt, in der er einen Angriff auf sein Leben abwehren musste. Das hat er offensichtlich erfolgreich getan.“
Den weiteren Aufstieg durch das Schnalstal dürfte der Bronzezeitler recht beruhigt zurückgelegt haben. Ein Beleg dafür: Die Experten haben als letzten Mageninhalt Reste einer Mahlzeit aus Steinbock- und Hirschfleisch gescannt, mit hohem Fettanteil und vielleicht Getreide als Beilage. Ötzi erreicht auf 3200 Höhenmetern den Fuß der Finailspitze. Vielleicht will er rasten, bevor er den Alpenhauptkamm nach Norden überquert. Er hat einen Bogen und 14 Pfeile dabei. Da trifft ihn das Geschoss vielleicht aus einer Distanz von 30 Metern von hinten in die linke Schulter und verletzt die Schlagader, ein empfindliches Organ. Er verblutet binnen kürzester Zeit. Die Leiche gefriert schnell und wird zur Mumie. Für JahrtausenWar es wirklich so?
„Natürlich ist auch das ein bisschen Hypothese“, stellt Gerichtsmediziner Peschel fest. „Aber der Schuss kam definitiv von hinten“. Peschels Kollege Alexander Horn ist Chef der Fallanalytiker der Münchner Polizei. Auch er war entscheidend an der kriminologischen Aufarbeitung des Mordfalles beteiligt. Auch er sagt: Der Anschlag kam hinterrücks. Offenbar wollte der Täter keine körperliche Auseinandersetzung riskieren. Dem eigentlichen Motiv ist über ein Ausschluss-Verfahren nahezukommen. Habgier? Wenig wahrscheinlich. Ausgeraubt wurde Ötzi wohl nicht, Pfeil und Bogen fanden sich bei der Mumie noch genau so wie seine Fellmütze, die vollständige Bekleidung und eine wertvolle Axt.
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So nah wie an Ötzi ist die Forschung weder der uralten Knochengruben-Leiche in Nordspanien gekommen noch den Skelettresten von Herxheim. Aber wie bei dem „Mann aus dem Eis“ vermutet sie auch bei den vielen jungen Opfern in der Pfalz ein Tötungsdelikt. „Es ist davon auszugehen, dass die zerlegten Individuen keines natürlichen Todes gestorben sind, sondern gewaltsam aus dem Leben gerissen wurden“, schreibt Andrea Zeeb-Lanz, die das „Projekt Herxheim“ zur Untersuchung der Funde begründet hat.
Andererseits warten viele Indizien noch auf Klärung: Die Toten am Westrand der Gemeinde stammen nicht aus der Gegend, sondern aus eher gebirgigen Orten, teils hunderte Kilometer entfernt. Waren es Bergbauern? Nomaden? Waren sie Entführte, wurden aus ihnen Ritualopfer oder gerieten sie zur Nahrung von Kannibalen? Und warum bloß die Halbierung der Schädel? Alles Fragen, deren Antworten „weiter im Dunkeln“ liegen, sagt Zeeb-Lanz.
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