Bochum. In eine Klinik wollte die Bochumer Angstpatientin „nie wieder“. Deshalb kam die Therapie in zu ihr – ein neues Konzept in der Psychiatrie.
Sie kann jetzt „im Rechteck atmen“. Das hilft gegen die Angst. Und um ihren Hals trägt sie nun gern ein gelb-rot-blaues Tuch aus Seide, selbstbemalt. Denn für Daniela Wedler ist das Leben wieder bunt, lebenswert. Gelernt hat sie das: daheim. In einer „Therapie zu Hause“ für Patienten mit psychischen Erkrankungen, die eigentlich stationär behandelt werden müssten. Doch in eine Klinik wollte die 54-Jährige aus Bochum „nie wieder“.
Seit 2018 zahlen die gesetzlichen Krankenkassen die „Therapie zu Hause“ – sie nennen sie „StäB“: Stationsäquivalente Behandlung. Bundesweit bieten sie inzwischen 60 Kliniken an, im Ruhrgebiet sind es zwei: die LWL-Klinik in Dortmund und das Martin-Luther-Krankenhaus in Wattenscheid, das zum Katholischen Klinikum Bochum (KKB) gehört.
Chefarzt: „Die Rückmeldungen sind bombastisch“
Zu Jahresbeginn ist das KKB gestartet, mehr als 30 Patienten und Patientinnen wie Daniela Wedler wurden seither zu Hause therapiert, jeweils vier bis zehn Wochen lang. „Die Rückmeldungen sind bombastisch“, sagt Dr. Jürgen Höffler, Chefarzt der Psychiatrie. Er will das Angebot deutlich ausbauen. Und zwar nicht, weil es auf seinen acht Stationen an Betten mangele.
„Wir begleiten Patienten auch bei Gängen, die ihnen allein schwer fallen.“
Es gebe, erklärt der für StäB verantwortliche Oberarzt Henning Ruff, Menschen mit psychischen Erkrankungen, die eine intensive Therapie benötigten, die jedoch nicht stationär behandelt werden wollten oder könnten: Menschen, die Kinder (oder auch Haustiere) zu betreuen haben; Angehörige pflegen müssen; sich seit Jahren nicht trauen, die eigene Wohnung zu verlassen; Menschen mit einer Angsterkrankung wie Daniela Wedler. Seit langem schon ist die zweifache Mutter deswegen in ambulanter Psychotherapie. Im Sommer sagte ihr die Therapeutin: Das reicht nicht mehr, Sie müssen in eine Klinik. Wedler wollte nicht.
Patientin: „Eine stationäre Therapie hätte mich zurückgeworfen“
Nach einem Unfall, bei dem sich die Pharmazeutisch-Technische Assistentin den Arm verletzt hatte, hatte sie kurz zuvor ein paar Tage in einem Krankenhaus verbracht. Eine wohl belastende Erfahrung. „Ich wusste, das steh‘ ich nicht noch einmal durch“, erinnert sich die Bochumerin. Sie wollte zudem weiter für ihren Mann und die beiden Kinder da sein, das kranke Familienmitglied nicht allein lassen. Wedler sagt, es sei vielleicht „ungerecht“, aber sie denke, eine stationäre Therapie hätte sie tatsächlich „zurückgeworfen“. „Ich stünde ganz sicher nicht da, wo ich heute stehe. Mein Selbstwertgefühl wäre doch in den Keller gesunken, hätte ich mich in ein Bett in der Psychiatrie gelegt.“ Die Hemmschwelle, sich in eine stationäre Therapie zu begeben, erklärt Chefarzt Höffler, sei für viele psychiatrische Patienten sehr hoch, „psychische Erkrankungen sind nach wie vor stigmatisiert“.
Wedler also entschied sich für eine „Therapie zu Hause“ – und Henning Ruff nach dem Vorgespräch, dass sie eine geeignete Kandidatin war. Denn nicht für alle Patienten ist StäB das richtige Konzept. Wer etwa akut Suizid-gefährdet oder süchtig sei, könne nicht daheim behandelt werden, erläutert Ruff.
„Engel des Tages“
Von Mitte Juli bis Ende August, sechs Wochen lang, bekam Daniela Wedler täglich „aufsuchende Behandlung“: von erfahrenen und/oder speziell geschulten Pflegekräften, einer Psychologin oder einer Sozialarbeiterin. Mindestens einmal in der Woche kam auch ein Arzt zur Visite, meist Ruff, Psychiater und Psychotherapeut. Wedler nennt sie alle ihre „Engel des Tages“: „Sie haben mir vermittelt, dass ich stark bin, dass ich mich nicht komplett auflösen, sondern dieses Mal aus dem Tal herausfinden werde.“ Und dabei sei sie „ein freier Mensch geblieben“, habe etwa essen und schlafen können, wann sie wollte – „anders als in der Klinik!“
„StäB ist kein Allheilmittel, aber ein weiterer Pfeil im Köcher.“
Man redete, das vor allem; man zeigte ihr Techniken, die helfen könnten, aus dem „Teufelskreis der Angst“ auszubrechen, etwa das „Atmen im Rechteck“; Techniken, die verhindern, dass Angst zu Panik wird; man erteilte ihr kleine Übungsaufgaben, etwa ein Achtsamkeitstraining; ermunterte sie, weiterhin ihre Yoga- und Pilates-Kurse zu besuchen, und lud sie ein, zur Ergo- oder Bewegungstherapie ins Wattenscheider Krankenhaus zu kommen. Wo unter anderem der bunte Seidenschal entstand … „Andere Patienten begleiten wir bei Gängen, die ihnen schwerfallen, Einkaufen etwa“, ergänzt Ruff. Bei Bedarf kommen die „Engel“ auch mehr als einmal am Tag, rund um die Uhr ist ein Ansprechpartner erreichbar. Am Wohnzimmertisch werden zudem Medikamente verabreicht und Blut abgenommen.
Früher hat sie die Angst gelähmt, „den Körper und das Denken“
Grundsätzlich, erläutert Höffler, sei die Therapie zu Hause „für ein breites Spektrum psychischer Erkrankungen denkbar“, in Bochum konzentriere man sich noch auf Angststörungen und Depressionen. Er sagt, StäB sei kein Allheilmittel, nur ein „weiterer Pfeil im Köcher“. Er beklagt die administrativen Hürden, die es bei der Beantragung der Kostenerstattung noch zu nehmen gelte. Doch er hält StäB für „eine sehr sinnvolle Ergänzung der bestehenden Therapien“. Dann erzählt von einem jungen Mann, der sich jahrelang nicht mehr aus seiner Wohnung gewagt hatte, und der dann zu Hause therapiert wurde. „Anschließend war er bereit für eine stationäre Behandlung!“ Auch den umgekehrten Weg nahmen Patienten schon, wechselten nach der stationären Therapie in die zu Hause.
Wedler sagt, StäB sei ihr „Rettungsanker“ gewesen. Früher habe die Angst sie gelähmt, „den Körper und das Denken“. „Rationale Entscheidungen waren mir dann gar nicht mehr möglich.“ Wenn die Panik heute dräue, wisse sie, wie sie reagieren müsse. Und dann merke sie sofort, wie ihr Herz wieder langsamer schlage, sich der Puls beruhige, sie wieder Luft bekäme. Nicht länger male sie sich die Dinge in dunkelsten Farben aus, sie arbeite sogar wieder in ihrer Apotheke. „Und es klappt wunderbar. Ich bin so glücklich.“