Essen. Die psychiatrische LVR-Fachklinik in Essen gründet einen „Erfahrungsbeirat“ – und steht damit bundesweit ziemlich allein da.
„Was wollen die von mir?“, dachte Heiko Lenzen im ersten Moment. Damals, als ihn seine Pflegedienstleitung fragte, ob er nicht im neuen „Erfahrungsbeirat“ der Essener LVR-Klinik mitmachen wollte. Der 50-Jährige hatte seine Heroin-Sucht doch längst überwunden, Patient der Essener LVR-Universitätsklinik war er zuletzt vor elfeinhalb Jahre, heute betreut er selbst deren Patienten, arbeitet als „Genesungsbegleiter“, als „Experte mit Erfahrung und spezieller Ausbildung“ in der Allgemein-Psychiatrie. „Was also wollen die von mir?“, fragte er sich.
Nun: Sie wollen lernen von ihm und anderen, im Grunde: von denen, denen sie helfen wollen. Denn die seien die Profis, findet Prof. Martin Teufel. „Es geht uns um die professionelle Innenperspektive“, erläutert der Ärztliche Direktor der Klinik, „die Sichtweisen und das Wissen Betroffener.“ Er ist überzeugt, dass deren eigenes Erleben, deren Erfahrungen mit Therapien und Krankheit die Behandler, die ganze Klinik im 50. Jahr ihres Bestehens, besser machen können. Am Mittwoch (14.8.) wird darum der Essener „Erfahrungsbeirat“ offiziell gegründet – und Heiko Lenzen ist dabei.
„Ich kenne keine Klinik in NRW, die sowas hat“
In somatischen Kliniken sind solche Patientenbeiräte keine Seltenheit mehr – in psychiatrischen in Deutschland seien sie „ziemlich einzigartig“, sagt Teufel, „ich kenne keine Klinik in NRW, die sowas hat.“ Die Arbeit des onkologischen Patientenbeirats am nahen Turmorzentrum der Uniklinik Essen habe er intensiv beobachtet – „und gesehen: Es funktioniert.“ Darum ist ihm der Beirat auch in seiner Psychiatrie ein „unglaublich wichtiges, zentrales Anliegen“; in fünf Jahren, hofft er, sei das ganze Haus von dessen Ideen „durchdrungen“, werde bei jeder Studie, jedem neuen Therapiekonzept, jeder baulichen Veränderung und auch bei strukturellen Dingen die Betroffenen-Perspektive mitgedacht.
„Ein Patient, von dem die Ärzte sagen, dass er woanders besser behandelt werden kann, muss da auch schnell landen – ohne kompliziertes Aufnahmeverfahren, ohne bürokratische Hürden, ohne ewig lange Warteliste.“
Kathrin S., die Sprecherin des neuen Beirats, hätte da durchaus schon ein paar Vorschläge: „Verlegungen etwa müssen leichter gemacht werden“, findet die 35-Jährige, die einst selbst wegen Drogenmissbrauchs, Persönlichkeits- und affektiver Störung in Behandlung war und heute ebenfalls als Genesungsbegleiterin in der LVR-Klinik arbeitet. „Ein Patient, von dem die Ärzte sagen, dass er woanders besser behandelt werden kann, muss da auch schnell landen – ohne kompliziertes Aufnahmeverfahren, ohne bürokratische Hürden, ohne ewig lange Warteliste.“ Therapiekonzepte, sagt S., „müssen zudem transparenter gemacht werden. Im Nachhinein verstehen es die meisten. Anfangs sind aber viele so verunsichert, dass sie gar nicht ins Handeln kommen. Da muss mehr erklärt werden zu Beginn.“
Patient: „Nicht alles kann man einem Arzt oder einer Pflegekraft erzählen“
„Nicht alles“, ergänzt Lenzen, „kann ein Patient einem Arzt oder einer Pflegekraft erzählen. Ich selbst hätte mir vor elf Jahren sehnlichst jemanden gewünscht, der mir meine Fragen beantwortet – aus eigenem Erleben.“ Jeder Suchtkranke mit hohem Leidensdruck frage sich vor der Therapie: Wie wird mein cleanes Leben aussehen? „Aber ein Arzt, der nie süchtig und in Therapie war, kann Dir das nicht sagen.“ Auch seine Mutter, findet Lenzen, hätte damals jemanden gebraucht, der für sie da gewesen wäre. „Sie war allein mit dem ganzen Sch... und gab sich selbst daran die Schuld. Jemand hätte ihr erklären müssen, dass nicht sie für meine Sucht verantwortlich war – und das kann man genauso gut auf Schizophrenie münzen.“ Natürlich sei all das lange her, viel habe sich inzwischen zum Besseren gewendet, räumt er ein. „Aber Potenzial nach oben gibt’s immer“, macht Teufel ihm Mut. Er freue sich über jede Idee, die vom Beirat komme.
Einmal im Monat soll sich das zehnköpfige Gremium künftig treffen, dazu kommen zweimal im Quartal weitere Termine, etwa mit dem Klinik-Vorstand. Seit November letzten Jahres sind Kathrin S. und erste Mitstreiter wie Heiko Lenzen schon bei den vorbereitenden Arbeiten, eine vorläufige Charta steht. Interessierte für die ehrenamtliche Mitarbeit zu gewinnen, sei indes nicht so leicht, so S., gerade „im Psych-Bereich“ fehle oft die Kraft für ein solches Engagement, manche oder mancher wollten nach ihrer Genesung mit dem Thema auch nichts mehr zu tun haben. Patienten und Patientinnen oder solche, die es mal waren, und mitmachen wollen: dürften sich gern melden, genau wie deren Angehörige und andere „patient advocats“, etwa Seelsorger.
Arzt: „Wir erhoffen uns professionelle Hilfe von den Betroffenen“
Zu den wichtigsten Aufgaben des Beirats gehöre „die professionelle Beratung von Patient:innen, auch zukünftigen, Angehörigen und Mitarbeitenden“, erklärt Kathrin S.; „strukturiert und standardisiert“, unabhängig von einer Behandlung, ergänzt Teufel. Eingebunden werden soll der neue Beirat aber auch bei Forschungs- oder Bauvorhaben der Uniklinik. Ansprechpartner für Patienten, Pflege und Ärztinnen soll er zudem sein, eine Art vermittelnde Schnittstelle, so S.: „Nicht jedem mit einer psychischen Erkrankung fällt das direkte Gespräch leicht.“
Mit Selbsthilfe („ebenfalls wichtig, aber andere Baustelle“), versichert Teufel, habe das Konzept nichts zu tun. „Wir Behandler erhoffen uns professionelle Hilfe von den Betroffenen, den berühmten Stups von außen.“ Ganz bewusst haben sie den neuen Beirat im Übrigen nicht Patienten-, sondern Erfahrungsbeirat genannt. Patientenbeirat, das zementiere doch nur: „Einmal Patient, immer Patient“, erläutert Teufel.
Wer mehr erfahren oder mitmachen will, kann sich über diese Mailadresse melden:
erfahrungsbeirat.essen@lvr.de