Essen. Überall in NRW fehlt Betreuung für Kinder, doch Tagesmütter senden einen Hilferuf. Viele Plätze sind noch unbesetzt. „Wir kämpfen ums Überleben.“

Es ist diese heimelige und familiäre Atmosphäre, in der Claudia Gößling so gerne arbeitet. Und das seit nun fast 30 Jahren. Die 54-Jährige ist Tagesmutter „aus Leidenschaft“. Ihre Wartelisten sind normalerweise lang. Einige Eltern warten bis zu einem Jahr, um ihr Kind in die „Rasselbande“ zu geben. So heißt die Großtagespflege in Essen, in der Claudia Gößling gemeinsam mit ihrem Team neun Kleinkinder betreut. Spätestens Ende August, zum Start des neuen Kita-Jahres, hätten die Eltern wieder bei ihr Sturm klingen müssen, um ihre Kinder für das kommende Jahr anzumelden, sagt Gößling. Doch in diesem Jahr ist das anders. Die Tagesmutter hat kaum Anmeldungen für 2025 und ihrem Mann, der in der Gruppe nebenan arbeitet, fehlt sogar ab nächstem Monat schon ein Kind. Plötzlich bangen die beiden um ihre Existenz.

So wie ihnen geht es derzeit vielen Tagesmüttern und -vätern in Nordrhein-Westfalen. „Liebe Eltern, suchen Sie noch eine liebevolle Betreuung für Ihr Kind?“, „Ich freue mich darauf, Sie und Ihr Kind in meiner Kindertagespflege willkommen zu heißen“ oder „Die Mäusegruppe hat ab sofort Platz für eine neue Maus“: Die Liste der Aufrufe in den sozialen Medien und auf Plattformen wie Ebay Kleinanzeigen ist lang, überall suchen Tageseltern noch nach Kindern. „In vielen Kommunen waren zum Start des neuen Kita-Jahres noch Plätze in der Kindertagespflege frei“, sagt Bettina Konrath, Vorsitzende des Landesverbandes Kindertagespflege NRW. „Einige haben große Ängste, weil sie als Selbstständige die offenen Stellen finanziell nur kurzfristig überbrücken können.“

In NRW fehlen rund 110.400 Kita-Plätze

Zahlen dazu, wie viele Plätze derzeit offen sind, liegen dem Land nicht vor. Hierbei handele es sich um die Angelegenheit der kommunalen Jugendämter, teilt das NRW-Familienministerium auf Anfrage mit. Für die Stadt Essen etwa meldeten die Fachverbände zum Start des neuen Kita-Jahres rund 250 offene Plätze von etwa 3000. In den Jahren zuvor seien es zu dieser Zeit eher 60 freie Plätze gewesen, sagt Claudia Gößling, die sich auch in der Interessensgemeinschaft Kindertagespflege in ihrer Stadt engagiert.

Die Entwicklung sorgt in Zeiten des anhaltenden Kitanotstands für Verwirrung: Denn während es für viele Tageseltern immer schwieriger wird, ihre Plätze zu besetzen, spitzt sich die Kitakrise an Rhein und Ruhr immer weiter zu. Laut einer Bertelsmann-Studie fehlen in NRW rund 110.400 Kita-Plätze. Zudem werden künftig noch 20.000 Erzieherinnen und Erzieher gebraucht. Warum also gehen so viele Tageseltern leer aus?

Weniger Geburten, mehr Eltern im Homeoffice, massiver Kita-Ausbau

Weniger Geburten, mehr Eltern im Homeoffice, ein starker Kita-Ausbau: Die Gründe können laut Bettina Konrath vielfältig sein. Für Tagesmutter Claudia Gößling liegt das Hauptproblem „ganz klar am massiven Ausbau der Kita-Plätze für unter Dreijährige“. Dadurch stünden Tageseltern, die knapp ein Drittel der Kinder in NRW betreuen, mit den Kitas in Konkurrenz. Weil das Land in den vergangenen Jahren den Ausbau des Kita-Angebots massiv gefördert habe, könne die angepeilte Versorgungsquote bei den „U3-Kindern“ mehr und mehr erfüllt werden. Die meisten Betreuungsplätze, die im Kita-Angebot heute noch fehlten, seien bei den Kindern von drei bis zum sogenannten Schul-Eintrittsalter, sagt Gößling.

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Die Sorge, nach der Tagesmutter mit drei Jahren keinen Anschlussplatz in der Wunsch-Kita oder gar in irgendeiner Kita zu bekommen, bringe viele Eltern dazu, ihr Kind schon ab zwei Jahren in eine Kita zu bringen. Gößling: „Ich habe das in den letzten Jahren erlebt, dass Eltern bei mir gestartet sind und dann weinend abgebrochen haben, weil sie doch spontan für ihr zweijähriges Kind einen Platz in der Kita bekommen haben.“

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Mutter: „Als die Wunsch-Kita kam, bin ich bei der Tagesmutter abgesprungen“

Eine Mutter aus Essen erzählt uns anonym: „Ich wollte meine kleine Tochter eigentlich erst mit drei Jahren in die Kita bringen. Die behütete Atmosphäre und die kleinen Gruppen habe ich bei unserer Tagesmutter so geschätzt.“ Ihre Tochter meldete sie schon ein paar Monate nach der Geburt in ihrer Wunsch-Kita um die Ecke an. „Als diese uns dann plötzlich zusagte, bin ich der Tagesmutter abgesprungen, aus Angst, dass ich im nächsten Jahr keinen Platz mehr bekommen würde. Ich habe mich so zerrissen gefühlt“, erzählt sie.

Tagesmütter wie Claudia Gößling haben dann das Problem, dass sie keine Rücklagen bilden können. Die Kosten für die angemieteten Räume, Renten- und Sozialversicherung laufen weiter – ob mit oder ohne Kind. „Natürlich machen wir uns Gedanken um die Zukunft“, sagt sie. Überlegungen, ob sie die Kinder etwa wieder Zuhause betreue oder gar wieder in ihren alten Job zurückkehre, habe es natürlich gegeben. Gößling weiß von vielen Kolleginnen und Kollegen, die ihre Einrichtungen schweren Herzens schließen mussten. Das nehme zu. „Wenn die Kinder ausbleiben, beginnt sinnbildlich ein Kampf ums Überleben.“

Tagesmutter aus Düsseldorf: „Man ist andauernd im Schwebezustand“

Diese Situation kennt auch Jelena Appelhans. Die 44-Jährige arbeitet seit drei Jahren als Tagesmutter in Düsseldorf. Von Februar bis Juli konnte sie zwei ihrer fünf Plätze zum ersten Mal nicht besetzen. „Ich war so unsicher und gestresst, habe viele Aushänge gemacht. Man ist andauernd im Schwebezustand, wie lange man die Kosten noch tragen kann.“ Und auch fürs kommende Jahr hat sie noch nicht genügend Anmeldungen. „Es bleibt ein Zittern und Bangen.“

Was können Lösungen sein, damit nicht noch mehr Tageseltern aus dem Beruf gehen? „Man muss über andere Finanzierungsmöglichkeiten nachdenken“, sagt Bettina Konrath. Das könnten etwa Zuschüsse sein, die Tageseltern in der Zeit bekommen, in der sie einen Platz freihalten. Zudem sei es sinnvoll, wenn Kindertagespflegen und Kitas untereinander vernetzter wären und gemeinsam an einem Strang ziehen.

Tagesmutter Claudia Gößling fordert: „Es müssen mehr Plätze für Drei- bis Sechsjährige geschaffen werden, damit die Eltern eine echte Wahlmöglichkeit haben.“

Für sie ist klar, dass sie bis zum Schluss kämpfen wird. „Ich möchte die Kinder noch viele Jahre beim Laufen-, Sprechen- und Denkenlernen begleiten.“ Und sie mit drei Jahren in die Kita verabschieden, wenn aus Kleinkindern echte Persönlichkeiten geworden sind.

Info: Seit dem ersten August 2022 brauchen Kindertagespflegepersonen für ihre Qualifizierung 300 Unterrichtseinheiten aus dem Qualifizierungshandbuch Kindertagespflege (QHB). Bereits ausgebildete pädagogische Fachkräfte, etwa Erzieher, benötigen nur 80 Einheiten. Die Qualifizierung zur Tagesmutter können nur Menschen beginnen, die volljährig sind und mindestens einen Hauptschulabschluss haben. Zudem müssen sie Bescheinigungen vorweisen, etwa ein erweitertes Führungszeugnis und eine ärztliche Bescheinigung. Das kommunale Jugendamt prüft außerdem die Räumlichkeiten der angehenden Tagesmutter.

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