Essen. Nicht das Heizungsgesetz oder der Haushaltsstreit standen an der Wahlurne, sondern Bürgerinnen und Bürger. Wissen sie, was sie tun?
Ein aus Syrien stammender Mann tötet in einem feigen Terrorakt wehrlose Menschen auf einem Stadtfest in Solingen. Prompt unterliegt jeder mit einem syrischen Migrationshintergrund einem Generalverdacht – absurderweise sogar jene, die selbst vor Islamisten und Terroristen aus Syrien nach Deutschland geflohen sind. (Ich empfehle hierzu die sehr lesenswerten Gedanken unserer WAZ-Volontärin Heba Alkadri.) Ich muss zugeben, dass ich nach den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen ähnlichen Reflexen unterliege. Obwohl zwei Drittel der Wählerinnen und Wähler dort nicht rechtsextrem gewählt haben, hätte ich im Moment überhaupt keine Lust darauf, in Erfurt oder Weimar oder Dresden oder Leipzig Urlaub zu machen, obwohl das an sich wunderschöne Städte sind. Zu groß ist meine, ja, Wut auf die vielen ostdeutschen Landsleute, denen 35 Jahre nach dem Mauerfall unsere Demokratie offenbar völlig egal ist.
Ich war schon dort, auch mehrfach, in Erfurt, Weimar, Dresden, Leipzig. Nein, perfekt ist da nichts. Aber was ist schon perfekt? Immerhin sind, um ein altes Wort von Helmut Kohl aufzugreifen, die Landschaften im Osten einige Multimilliarden-Transfers später vielfach „blühender“ als in manchen Städten des Ruhrgebiets. Die Schlagloch-Pisten, die ich aus Gelsenkirchen oder Essen oder Duisburg gewohnt bin, finde ich dort jedenfalls kaum. Der gemeine Kölner würde nun sagen: Man muss auch jönne könne. Das stimmt. Aber wenn die Thüringer und Sachsen über „die Ausländer“ lamentieren, obwohl der Migrationsanteil bei unter zehn Prozent liegt, dann spricht das für eine sehr hohe Jammerlappen-Quote. Der Journalist und Moderator Jörg Thadeusz spricht treffend von „Landstrichen des Selbstmitleids“. Zum Vergleich: In NRW liegt der Migrationsanteil bei mehr als 30 Prozent.
Freie Entscheidung freier Wähler
Sie werden sich jetzt vielleicht fragen: Darf man das so schreiben in einer Kolumne? Ist das nicht pure Wählerbeschimpfung? Die Antwort lautet zweimal: ja! Noch darf man alles sagen und schreiben in Deutschland. Noch gilt sie, die Meinungs- und Pressefreiheit. Und ich finde, dass diejenigen, die alles und jeden für ein schlimmes, ein katastrophales Wahlergebnis verantwortlich machen wollen, nur nicht die Wählerinnen und Wähler, eben letztere im Kern nicht ernst nehmen. Da stand kein AfD-Mann mit einer Waffe im Wahllokal – oder mit Geldscheinen, Alkohol oder anderen Drogen. Wer behördlich ausgewiesene Rechtsextremisten gewählt hat, hat sich frei und gezielt für Rechtsextremisten entschieden. Punkt.
Natürlich ist das aktuelle Regierungshandeln der Ampelkoalition Käse. Die Kakophonie von SPD, FDP und Grünen nervt und überfordert uns alle. Diese drei Parteien passen schlicht nicht zusammen. Angesichts ihrer Pulverisierung im Osten macht sich nun auch noch Panik unter den Koalitionären breit. Ein sicheres Zeichen dafür ist, wie vor allem SPD und Grüne jahrzehntelang gültige Grundsätze innerhalb von Tagen über Bord werfen. Nach Solingen und kurz vor Thüringen und Sachsen, als sich das Desaster schon abzeichnete, startete plötzlich ein Flugzeug mit 28 afghanischen Straftätern nach Afghanistan, einem Land, das von den schlimmsten Unmenschen regiert wird. Jetzt plötzlich ging, was das Grundgesetz, internationale Abkommen und überhaupt: unsere Menschlichkeit immer verhinderten? Was für eine scheinheilige Politik ist das?
Friedrich Merz und seine Finten
Nicht, dass die CDU in Sachen Scheinheiligkeit besser wäre. CDU-Chef Friedrich Merz bietet dem Bundeskanzler die Zusammenarbeit in Sachen Migration an, „zur Not“ auf Kosten der Koalition. Jetzt will er aus der Zusammenarbeit mit der Bundesregierung aussteigen, wenn Scholz nicht bis Dienstag verbindlich auf den Kurs von CDU und CSU einschwenkt. Man darf getrost annehmen, dass es Merz nicht zuerst um die Sache geht, sondern um ein gutes Wahlergebnis bei der nächsten Landtagswahl in Brandenburg in zwei Wochen. Anders ist so ein Ultimatum, das den so unter Druck Gesetzten in jedem Fall zu einem Verlierer macht, nicht zu verstehen.
Und dann ist da noch die Sache mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), jener neuen Partei mit rechts- wie linkspopulistischen Tendenzen, die vom Zerstörer aus dem Saarland, Oskar Lafontaine, heimlich gesteuert wird. Merz hat das BSW neulich als „eine Art Black Box“ bezeichnet – als ob er nicht genau wüsste, was in ihr enthalten ist. Ohne das BSW, das weiß die CDU genau, gibt es keine Regierung in Thüringen und Sachsen ohne Beteiligung der AfD. Nur so können die christdemokratischen Spitzenkandidaten Ministerpräsidenten werden bzw. bleiben. Der Bochumer Europaabgeordnete Dennis Radtke, bald Chef des wichtigen CDU-internen Arbeitnehmerflügels CDA, warnt vor genau so einer Zusammenarbeit. Ihm zufolge handelt es sich um eine „stalinistische Kaderpartei“.
In Moskau fände man eine solche Verbindung, die die CDU innerlich zerreißen könnte, sicher ziemlich gut – wie alles, was Deutschland und den Westen destabilisiert. Konrad Adenauer indes würde sich im Grab herumdrehen.
Wähler tragen Konsequenzen
Mit anderen Worten: Die etablierten Parteien werden gerade nicht attraktiver. Inkompetenz und Unglaubwürdigkeit sind eine üble Mischung. Und doch ist es zuerst der Wähler, der die Verantwortung für ein Wahlergebnis trägt. Wer das Wort „Wählerbeschimpfung“ benutzt, will es zu einem Tabu machen, diese Verantwortung zu thematisieren. Darum bleibe ich dabei: Wer extremistisch, wer verfassungsfeindlich wählt, handelt falsch, handelt kritikwürdig. Er trägt dann auch die Konsequenzen. Kein Terrorist oder Extremist kann unsere Gesellschaft derart beschädigen wie der Wähler, der der Demokratie überdrüssig ist. Wenn er die Demokratie aktiv abwählt, dann ist er schlimmer als der Nichtwähler, der gar nichts tut. Die hohe Wahlbeteiligung in Thüringen und Sachsen war darum kein Grund zur Freude. Sie war für sich schon Ausdruck einer krisenhaften Situation.
Und wer immer meint, hier „nur“ Denkzettel verteilt zu haben, dem sei gesagt: Der Schuss geht nach hinten los. Die Landtagswahlen wurden international zur Kenntnis genommen. Ob ich derzeit Lust darauf habe, im Osten einen Wochenendurlaub zu machen, kann den Menschen dort herzlich egal sein. Aber wenn Unternehmer sagen, dass sie aufgrund der politischen Rahmenbedingungen lieber nicht mehr in Thüringen oder Sachsen investieren, dann schadet das der Wirtschaft, dann kostet das Arbeitsplätze. Wenn die Zusammensetzung eines Landtages so ausfällt, dass keine seriöse Regierung mehr zustande kommen kann, dann schadet das ebenfalls, weil Regierungsunfähigkeit Stillstand bedeutet. Kein einziges Problem wird mehr gelöst.
„Die da oben“
Und dann kommen sie wieder, die Selbstmitleidenden, denen nicht mehr einfällt, als „die da oben“ zu beschimpfen. Man kann sich an fünf Fingern abzählen, welche Auswirkungen das dann auf die nächste Wahl hat. Ober-Nazi Björn Höcke muss nur abwarten, bis ihm die reifen Früchte in die Hände fallen. Und nein, diese Zeilen schreibt kein hochmütiger „Wessi“, der ausschließt, dass dieser verhängnisvolle Mechanismus nicht auch mit Verspätung bei uns in NRW greifen könnte (siehe dazu auch der Leitartikel von WAZ-Chefredakteur Andreas Tyrock). Im Gegenteil: Hier haben wir noch Zeit, das Unglück abzuwenden. Dieser Appell richtet sich aber nicht zuerst an unsere Landespolitikerinnen und Landespolitiker. Dieser Appell richtet sich zuerst an:
Sie, Dich und mich!
Auf bald.
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