Bochum. Das Bochumer Pilotprojekt „KidsDem“ endet. Beim letzten Gruppentreffen der Jugendlichen mit demenziell erkrankten Eltern flossen Tränen.

  • Keine zwei Prozent aller Demenzerkrankungen betreffen Menschen unter 65 – dennoch 30.000 bis 40.000 Männer und Frauen in Deutschland.
  • In jeder dritten Familie leben Kinder unter 18. Für sie ist die Erkrankung von Mutter oder Vater eine „Katastrophe“.
  • In Bochum startete vor drei Jahren das bundesweit erste Hilfsangebot – nun endet die Förderung.

Vor drei Jahren starteten LWL-Klinik, Alzheimer-Gesellschaft sowie die Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung St. Vinzenz in Bochum das Pilotprojekt „KidsDem“ – mit dem Ziel, eine Versorgungsstruktur für die heranwachsenden Kinder demenzkranker Eltern aufzubauen. Denn bundesweit gebe es noch „nirgendwo gezielte Hilfsangebote für diese besonders vulnerable Gruppe“, erklärte damals die LWL-Psychiaterin und Psychotherapeutin Dr. Brüne-Cohrs, die „KidsDem“ bis heute wissenschaftlich begleitet. Dabei litten die Betroffenen oft ein Leben lang unter den Folgen. NRW-Gesundheitsministerium und Landespflegekassen förderten das Vorhaben mit 235.000 Euro. Jetzt läuft es aus. Die gewonnenen Erkenntnisse stellten die Projektverantwortlichen jüngst auf der „2. KidsDem-Fachtagung“ vor. Eine „Handreichung“ als Blaupause sei in Arbeit, so Barbara Crombach von der Bochumer Alzheimer Gesellschaft, „damit sich auch andere auf den Weg machen können.“

Besuch der St. Vinzenz-Jugendhilfe am 17.05.2022 in Bochum. LWL-Projekt KidsDem: Eine Forschergruppe um die Bochumer Psychiaterin Ute Brüne-Cohrs entwickelt Hilfsangebote für die Kinder junger dementiell erkrankter Eltern. Sie sind wie alle Angehörigen von der Krankheit stark mit betroffen. Doch Jugendliche trifft das in einer besonders sensiblen Phase, oft sind die Folgen lebenslang zu beobachten. Im Foto: Anna Schorling, die im ambulanten Jugendzentrum tätig ist. Die Räume sind nach einem bestimmten Farbkonzept gestaltet, so dass eine angenehme Atmosphäre von den Farben und Formen ausgeht. Foto: Andreas Buck / FUNKE Foto Services

„Und da flossen dann die Tränen...“

Anna Schorling

Ungetrübte Stunden, in denen die Kinder ein Stück Normalität leben durften

Das letzte Gruppentreffen betroffener Jugendlicher – Herzstück des Projekts – fand schon Ende 2023 statt. „Ein sehr, sehr besonderer Abend“, erinnert sich Anna Schorling. Die Sozialpädagogin von St. Vinzenz leitete die Gruppe, begleitete sie zusammen mit zwei Kolleginnen über 18 Monate lang. Einmal pro Woche trafen sich die 13- bis 21-Jährigen, zum Reden, aber nicht nur. Es gab Ausflüge, sportliche Aktivitäten, sogar einen gemeinsamen Urlaub auf Texel, zuletzt ein Hörspiel-Projekt... Ungetrübte Stunden in denen diese Heranwachsenden einfach nur Heranwachsende sein, „ein Stück Normalität leben durften“, erklärt Schorling. Das sollte sie stärken und ermutigen, nicht zu vergessen, sich um sich selbst zu kümmen. Ein Dutzend Jugendlicher wurde insgesamt erreicht. Nicht nur aus Bochum.

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Für den „Abschiedsabend“ im Bochumer Café Safran hatten Anna Schorling und ihr Team Fotoalben gebastelt, als Erinnerung für alle Teilnehmenden. Doch die forderten nur: „Es soll nicht aufhören.“ Mit solcher Vehemenz, dass tatsächlich noch ein paar Nachtreffen organisiert wurden. Sie endeten mit Beginn der Sommerferien. „Und da flossen dann die Tränen“, erzählt Schorling.“

Die Belastung äußert sich in Wut, oder Angst, Depressivität, Schlafstörungen...

„Es sind nur zarte Zahlen“, sagt Brüne-Cohrs, „aber wir haben tatsächlich bei allen Projektteilnehmern eine Abnahme der Symptomlast festgestellt.“ Anfangs sei die psychische Belastung aller Betroffenen „sehr groß“ gewesen, „überraschenderweise unabhängig davon, ob sie in die körperliche Pflege, die eigentliche Versorgung ihrer Eltern mit eingebunden waren oder nicht“. In Depressivität äußerte sich das, in Schlafstörungen, Wut, Angst oder Aggressivität. Oft ohne, dass das gesunde Elternteil das überhaupt wahrnahm – auch das eine Erkenntnis aus dem Projekt.

Besuch der St. Vinzenz-Jugendhilfe am 17.05.2022 in Bochum. LWL-Projekt KidsDem: Eine Forschergruppe um die Bochumer Psychiaterin Ute Brüne-Cohrs entwickelt Hilfsangebote für die Kinder junger dementiell erkrankter Eltern. Sie sind wie alle Angehörigen von der Krankheit stark mit betroffen. Doch Jugendliche trifft das in einer besonders sensiblen Phase, oft sind die Folgen lebenslang zu beobachten. Die Räume sind nach einem bestimmten Farbkonzept gestaltet, so dass eine angenehme Atmosphäre von den Farben und Formen ausgeht.Im Foto: Psychiaterin Ute Brüne-Cohrs Foto: Andreas Buck / FUNKE Foto Services

„Wir haben bei allen Projektteilnehmern eine Abnahme der Symptomlast festgestellt.“

Dr. Ute Brüne-Cohrs

„Das Wertvollste“, sagt Anna Schorling im Rückblick, „war wohl, dass die Jugendlichen erfahren haben: Ich bin nicht allein mit meinem Problem, meinen Ängsten.“ Sich miteinander auszutauschen, gleichzeitig die Pädagogen zu Rate ziehen zu können, wann immer es nötig war – „das hat‘s gebracht“. Sie beobachtete zudem, wie die Teilnehmer langsam lernten, ihren Stress zu managen, Resilienz aufbauten – und Sicherheit im Umgang mit der Krankheit gewannen. „Die meisten hatten zunächst ein großes Geheimnis aus der Demenzerkrankung in der Familie gemacht. Am Ende wussten sie, wie man das kommuniziert im Freundeskreis oder Sportverein“, berichtet Schorling.

Besuch der St. Vinzenz-Jugendhilfe am 17.05.2022 in Bochum. LWL-Projekt KidsDem: Eine Forschergruppe um die Bochumer Psychiaterin Ute Brüne-Cohrs entwickelt Hilfsangebote für die Kinder junger dementiell erkrankter Eltern. Sie sind wie alle Angehörigen von der Krankheit stark mit betroffen. Doch Jugendliche trifft das in einer besonders sensiblen Phase, oft sind die Folgen lebenslang zu beobachten. Die Räume sind nach einem bestimmten Farbkonzept gestaltet, so dass eine angenehme Atmosphäre von den Farben und Formen ausgeht.Im Foto: Barbara Crombach von der Alzheimer GesellschaftFoto: Andreas Buck / FUNKE Foto Services

„Jugendliche wie die bei KidsDem (...)haben wir als Gesellschaft doch gar nicht im Blick.“

Barbara Crombach

„Traurig, wenn das gewonnene Knowhow nicht weiter genutzt werden kann“

Für das Geld, das Land und Pflegekassen in „KidsDem“ steckten, sind alle Projektträger sehr dankbar. Nun soll überlegt werden, wie die gute Idee „in eine Regelfinanzierung überführt werden kann“. „Angesichts der hoch verschuldeten Ruhrgebietskommunen wird es aber sehr schwierig werden, das hinzubekommen“, fürchtet Schorling. Brüne-Cohrs glaubt daran, dass es gelingen kann, „in der ein oder anderen Form“. Es gebe „positive Signale“. Käme keine Fortsetzung zustande, sie würde es zutiefst bedauern. Auch für Barbara Crombach wäre es traurig, wenn das gewonnene Knowhow nicht weiter genutzt werden kann. „Jugendliche wie die bei KidsDem, pflegende Jugendliche, die sich um kranke Elternteile kümmern müssen, die haben wir als Gesellschaft doch gar nicht im Blick. Ich finde das gruselig.“

Was auf jeden Fall bleiben wird: Bei der Bochumer Alzheimer Gesellschaft treffen sich inzwischen regelmäßig die Ehepartner junger dementiell Erkrankter.