Essen. Zum Bürgergeld kursieren viele falsche Vergleiche und Zahlen. Rechnet man korrekt, kommt man zu überraschenden Einsichten.
Und, lohnt sie sich noch, die gute alte Arbeit? Oder wird das Bürgergeld im kommenden Jahr so gestaltet, dass sich Jobs als Putzmann oder Verkäuferin nicht mehr lohnen? Darauf gibt es eine kurze und eine komplexe Antwort. Die Details sind allerdings wichtig, wenn man nicht Falschinformationen aufsitzen will – und die Debatte ist gespickt davon.
Sie hat in den letzten Tagen Fahrt aufgenommen, weil der Bundestag das Bürgergeld am Donnerstag verabschieden soll – aber auch durch eine Studie, die das Institut für Weltwirtschaft (IfW) am Wochenende nach nur einem Tag zurückziehen musste, weil sie von vorne bis hinten falsch war. Sie ähnelt darin zahlreichen „Schnipseln“, die bei Facebook & Co. kursieren und ist selbst Grundlage für neue „Memes“.
Unionspolitiker – wie Carsten Linnemann bei Maybrit Illner – argumentieren in Talkshows mit den falschen Zahlen. Auch die Schlagzeilen der Medien, die die Studie nicht ausreichend geprüft haben, bleiben in der Welt: „So ungerecht ist das neue Bürgergeld“ (Bild). Das Handelsblatt hat zwar seinen Artikel mit einem Hinweis auf die Überarbeitung der Studie versehen, die falsche Überschrift ist dennoch geblieben: „Wie das Bürgergeld das Lohnabstandsgebot verletzt“.
Tut es das?
Die kurze Antwort
Nein. „Prinzipiell sind Erwerbstätige immer besser gestellt“, erklärt Gerhard Bäcker, Professor für Soziologie an der Uni Duisburg-Essen. Denn wer im Vergleich zum Bürgergeld ungünstig dasteht, kann aufstocken. Das heißt: Man behält einen Freibetrag und bekommt das Bürgergeld obendrein. Ein Vollzeitarbeitender hat so immer einen „Lohnabstand“ von mindestens 348 Euro (mit Kind 378 Euro).
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Der Freibetrag, der für diesen Abstand entscheidend ist, soll sich übrigens mit dem Bürgergeld erhöhen gegenüber der Hartz-IV-Regelung. Das heißt: Mit dem Bürgergeld lohnt sich Arbeit zumindest im Falle der Aufstockung mehr als zuvor.
Dass die Regelsätze im nächsten Jahr höher ausfallen, ist auch nicht direkt dem Bürgergeld geschuldet. Das Bundesverfassungsgericht hatte schon 2014 geurteilt, dass die Hartz-IV-Leistungen den Bedarf decken müssen. Sie werden regelmäßig angepasst. Neu ist nur, dass sie nun zeitnäher die Preisentwicklung spiegeln sollen – eine Notwendigkeit, die zum Beispiel auch CDU-Chef Friedrich Merz anerkennt.
… und nun die Details
Wann aufgestockt werden kann, ist stark abhängig von Zahl und Alter der Kinder – wie auch unsere fünf Rechenbeispiele in der Grafik zeigen. Wie verläuft nun der Trend, wenn man die Aufstockung ausblendet? „Im Detail sind die Rechnungen nicht einfach“, sagt Gerhard Bäcker. Es kommt zum Beispiel bei der Berechnung des Wohngeldes auf den Wohnort an (in unseren Beispielen Hamburg). Festhalten lässt sich: In allen Fällen liegt man, anders als oft behauptet, mit Lohnarbeit auch ohne Aufstockung höher als mit dem Bürgergeld – vorausgesetzt, man beantragt alle Leistungen, die einem zustehen.
Das Problem ist: Kinderzuschlag, Unterhaltsvorschuss und selbst das Wohngeld sind vielen Betroffenen nicht bekannt. Selbst das Kieler Institut für Weltwirtschaft hat seine Probleme damit. Es hatte in seiner missratenen „Studie“ die ersten beiden Leistungen einfach weggelassen, ebenso den Mehrbedarf für Alleinerziehende beim Bürgergeld. Beim Kindergeld und Wohngeld hatte der Autor die aktuellen Sätze eingesetzt, die aber im nächsten Jahr angehoben werden sollen – dann, wenn auch das Bürgergeld kommt. Selbst der Regelbedarf war falsch berechnet – die vielen Stufen können allerdings auch verwirren.
Im Grunde müsste man sich nicht lange mit diesen Fehlern aufhalten, wenn sie nicht so oft gemacht würden – manchmal wohl auch absichtlich. Darauf weist Dr. Johannes Steffen vom Portal Sozialpolitik hin, aus dessen Daten wir auch die Rechenbeispiele gebildet haben:
- Das Bürgergeld wird oft alleine mit dem Nettolohn verglichen.
- Andere Leistungen werden nicht oder nur teils berücksichtigt.
- Und der Anspruch auf Aufstockung wird ausgeblendet.
Man treffe diese „groben Irrtümer“ an in Interviewaussagen wie der von Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer in der Rheinischen Post: „Viele fragen sich, warum soll ich morgens um 7 Uhr schon arbeiten, wenn derjenige, der das Bürgergeld bezieht, fast das Gleiche bekommt.“
Das animierte die „Bild“ zu einer Rechnung, bei der der Regelbedarf einer vierköpfigen Familie allein mit dem Lohn eines Malers (brutto 2500 Euro) verglichen wurde. Selbst dabei kam ein Plus von 369 Euro heraus. Steffen vervollständigte die Rechnung – tatsächlich steht die Familie des arbeitenden Malers mit 1018 Euro besser da.
So geht es auch mit dem Leserbrief „Warum noch arbeiten?“, der in Sozialen Medien heiß läuft: „Für 158 Euro weniger soll ich 160 Stunden arbeiten?“, heißt es da – wieder am Beispiel eines Malers. Korrekt gerechnet hat dieser aber 796 Euro mehr.
Der Lohn der Arbeit
Schaut man sich nun all die staatlichen Leistungen an, die auch Arbeitende beziehen müssen, um über die Runden zu kommen, müsste man die Eingangsfrage anders formulieren: „Kann man allein von Arbeit leben?“ Die Antwort ist wiederum sehr einfach: Der Mindestlohn genügt offensichtlich nicht – aber das ist eine andere Debatte.
Darf man zu viel Vermögen behalten?
Ein nagelneuer Maserati, ein Haus von 140 Quadratmetern in bester Münchener Wohnlage, Barvermögen von 120.000 Euro und umfangreiche Sparpläne im Alter – und trotzdem Bürgergeld. So beschreibt Sozialrechtsexperte Gregor Thüsing von der Uni Bonn in der „Bild“ das mögliche Schonvermögen einer dreiköpfigen Familie.
Auf das Schonvermögen, das zwei Jahre lang unangetastet bleiben soll, und die weicheren Sanktionsregeln, konzentriert sich ein weiterer großer Teil der Kritik am Bürgergeld. Der Arbeitgeberverband und das Institut der Deutschen Wirtschaft warnen schon vor einer „neuen Rentenwelle“, weil das Bürgergeld eine attraktive Brücke in den Ruhestand sei.
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In unseren Rechenbeispielen geht es um harte Zahlen, hier um Bewertungen, aber auch diese gehören natürlich zur Antwort auf die Frage: „Lohnt sich Arbeit noch?“ Interessanterweise sind die Interessenvertreter der Geringverdiener, die ja gerne in Konkurrenz gesehen werden zu Bürgergeldempfängern, stets für die neuen Regeln eingetreten. Anja Piel aus dem Vorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) erklärt: „Der Schutz von Wohnung und Ersparnissen hält nicht von Arbeit ab, sondern schützt vielmehr langjährig Beschäftigte vor dem sozialen Abstieg auf Sozialhilfeniveau, wenn sie nach einem Jahr Arbeitslosengeld noch keine neue Arbeit gefunden haben. Wer gerne einen größeren Lohnabstand hätte, muss niedrige Löhne erhöhen.“
„Das ist das Gegenteil, was erforderlich ist“
Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands BDA, hat dagegen erklärt, bei einer Umsetzung der Pläne würden keine Brücken ins Arbeitsleben, sondern in das Arbeitslosensystem geschlagen. „Das ist das Gegenteil, was erforderlich ist.“ Es würde keine Gegenleistung von Hilfesuchenden mehr erwartet.
Tatsächlich gibt es eine auf sechs Monate begrenzte Vertrauenszeit ohne Sanktionen. Auch bleibt das erste Meldeversäumnis ohne Folgen. Danach jedoch mindert sich der Regelbedarf bei Pflichtverletzungen um 20 Prozent, bei jeder weiteren um 30 Prozent. Meldeversäumnisse machen 10 Prozent aus.
Die Beträge des Schonvermögens (60.000 Euro plus 30.000 Euro für jedes weitere Haushaltsmitglied) entsprechen den Regeln, die aus Anlass der Corona-Krise geschaffen wurden – beschlossen von Union und SPD gemeinsam. Die zweijährige Schonfrist ist in der Tat neu, danach sinkt das Schonvermögen auf 15.000 Euro pro Person. Aktuell ist die Regelung altersabhängig. Selbstbewohntes Wohneigentum soll Schonvermögen bleiben, wenn zum Beispiel vier Personen in einem Haus mit 140 Quadratmetern Wohnfläche leben.
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