Essen. Keiner tickt aus, und manche ticken nicht richtig. Sommermärchen lassen sich nicht erzwingen. Aber etwas mehr gute Laune geht, oder?!

Wusialaaaa!

Noch ein bisschen mehr Wusiala, jetzt am Sonntag wieder gegen die Schweiz – und endlich kann es beginnen, das neue Sommermärchen? Ist es das, was wir wollen, dass der Sport die geradezu unterirdische politische Stimmung im Land dauerhaft aufhellt? Musiala und Wirtz (= Wusiala) statt Scholz und Habeck und Lindner (= Scholeckner)?

Nein, gute Laune kann man nicht verordnen, Entkrampfung auf Knopfdruck gibt es nicht. Der Sport zerstreut, lenkt ab, ähnlich wie der Karneval zum Beispiel. Aber er löst keine Probleme, beendet keine Krisen. Der Sport kann fehlende gute Politik nicht ersetzen oder die Wirkung schlechter Politik umkehren. Andererseits: Ein bisschen mehr Lächeln auf den Lippen der Deutschen wäre schon ganz schön. Ein bisschen mehr Heiterkeit, ein bisschen mehr Freude, ein bisschen mehr Ausgelassenheit und ein bisschen mehr Zuversicht. Man muss ja nicht gleich ausrasten nach zwei Siegen in der Vorrunde.

Die Welt zu Gast bei Perfektionisten

Offenbar ist es eine Eigenart von uns Deutschen, dass wir in unserem Perfektionismus immer nur „Ganz oder gar nichts“ kennen. Einerseits sehnen wir uns nach der geradezu unbändigen guten Laune, als 2006 die Welt zu Gast bei Freunden war und wir uns selbst nicht wiedererkannten, weil wir im Spiegel überraschend sympathische Menschen entdeckten, die ausgelassen feiern konnten und keine Angst mehr hatten vor Schwarz-Rot-Gold. Andererseits waren wir schon vor Beginn dieser Europameisterschaft im eigenen Land enttäuscht, dass sich das Sommermärchen nicht wiederholen lassen wird, bevor es auch nur den Hauch einer Chance hatte.

Missmut erzeugt Missmut. Nichts funktioniert besser als eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Und wir Journalisten waren da nicht ganz unbeteiligt.

Auswärtstrikots polarisieren

Dann endlich ging es los, wir spielten ein klasse 5:1 – aber der Gegner sei schwach gewesen, hieß es gleich, wir seien noch nicht im Flow, zu viel Euphorie könne schädlich sein. Es folgte ein ordentliches 2:0 gegen einen etwas stärkeren Gegner – aber da würden noch ganz andere Kaliber auf uns warten, der eigentliche Härtetest stehe noch bevor, und überhaupt: Was seien das nur für hässliche rosa-lila Mädchentrikots, die unsere Jungs da trugen? Ich selbst hatte es übrigens ausprobiert und mir zum Public Viewing das neue Auswärtstrikot des DFB übergestreift. „Gut siehst Du aus!“, begrüßte mich ein Freund, und ich wollte mich gerade freuen über die nette Anerkennung, als er schnell mit ironischem Unterton hinterherschob: „Zum Anbeißen!“ Nein, eine Nation von lockeren Lila-Laune-Bären sind wir nicht.

MUSIALA Jamal Team Deutschland mit WIRTZ Florian bei einer Mauer UEFA Fussball Europameisterschaften 2024 in Deutschland
Lila-Laune-Wusiala: Mehr Freude, weniger Verkrampftheit. © imago/Laci Perenyi | IMAGO/Laci Perenyi

Stattdessen plagen uns ständig Schuldgefühle. Wer ein Deutschlandfähnchen an sein Auto klemmt oder die Nationalhymne mitsingt, hat Angst davor, sich fragen lassen zu müssen, ob er auch Urlaub auf Sylt macht – da, wo einige Wohlstandsrassisten ihre miesen Lieder gesungen haben. Dabei hat ein gesunder Patriotismus mit nationalistischer Überhöhung nichts am Hut. Kein Wunder, dass im Straßenbild so gut wie kein Schwarz-Rot-Gold auszumachen ist. Unterdessen wird die Liste jener, die nicht alle Tassen im Schrank haben, immer länger.

Göring-Eckardt: Eine Rassistin?

Da postet die grüne Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt nach dem Sieg gegen Ungarn, unsere Mannschaft sei „wirklich großartig“, und fügt hinzu: „Stellt Euch kurz vor, da wären nur weiße deutsche Spieler.“ Was sie damit sagen will, liegt auf der Hand: Es ist die Vielfalt, die uns stark macht, und nicht die Einfältigkeit von Rechtsextremisten, nach deren Lesart Spieler mit Migrationshintergrund wie Musiala gar nicht in Deutschland leben, geschweige denn für die deutsche Nationalmannschaft spielen dürften. Doch statt Zustimmung erntet sie einen Shitstorm: Rassismus sei das, Spieler nach ihrer Hautfarbe bewerten zu wollen.

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Was für ein Schwachsinn! Ausgerechnet Göring-Eckardt! Prompt zieht sie den Tweet zurück und entschuldigt sich. Dabei ist der Vorwurf so absurd wie der gegen jene, die die Verwendung des Wortes „Neger“ beklagen, um sich anschließend vorwerfen lassen zu müssen, sie würden das Wort so selbst verbreiten. Zulässig sei nur die Umschreibung „N-Wort“. So stempeln (vorgebliche) Anti-Rassisten andere Anti-Rassisten zu Rassisten ab. Und die echten Rassisten lachen sich kaputt. Wie bekloppt kann man sein?

Mertesacker und Kramer: Unmenschen?

Schuldgefühle sollen wohl nun auch die EM-Experten Peer Mertesacker und Christoph Kramer plagen, weil sie im Hinblick auf den Kader von Mannschaften im ZDF von „Spielermaterial“ sprachen. Moderator Jochen Breyer sah sich umgehend genötigt, die beiden Weltmeister von 2014 dahingehend zu belehren, dass Menschen kein Material seien. Meine Güte! Natürlich sind sie das nicht. Aber wie soll sich eine Nation locker machen, wenn allüberall die Sprachpolizisten lauern, um Leuten Dinge zu unterstellen, die absurd sind. Oder möchte jemand ernsthaft die Integrität von Mertesacker und Kramer infrage stellen? Sollten wir uns da nicht lieber auf ganz andere Leute konzentrieren? Auf solche, für die „Menschenwürde“ ganz offensichtlich ein Fremdwort ist?

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Julian Reichelt zum Beispiel, der frühere „Bild“-Chefredakteur, inzwischen ein ultrarechter Krakeeler, diskreditierte ZDF-Moderator Oliver Schmidt als „Typen“, der „in jedem anderen Land“ kein Spiel mehr kommentieren dürfe. Sein Vorwurf: Kurz vor dem EM-Eröffnungsspiel und dem Abspielen der deutschen Nationalhymne hatte Schmidt gesagt, nun folge „die deutsche Hymne Einigkeit und Recht und Freiheit – und vor allem Vielfalt“. Dies sei, so Reichelt auf X, ein „linker Kampfbegriff“. Andere Rechtsaußen-Publizisten sprachen gar von „Fakenews“ und einer „Verunglimpfung“ der Nationalhymne.

Auf Schalke groß geworden

Die allermeisten Fußballfans dürften Oliver Schmidt gut verstanden haben. Er hat nichts verfälscht oder verunglimpft, sondern ganz im Sinne unserer Verfassung den historischen Text der Hymne um eine passende Kommentierung ergänzt und sie so in die heutige Zeit übersetzt. Reichelt kann denken und schreiben, was er will: Wir alle können stolz sein auf die Leistungen des deutschen Kapitäns Ilkay Gündogan oder des Edel-Ergänzungsspielers Leroy Sane, die wie ein Manuel Neuer oder ein Chris Führich wo groß geworden sind? Genau, auf Schalke! Einigkeit und Recht und Freiheit, und Vielfalt statt Einfalt!

Apropos Einfalt: Wie man Engländern unverkrampft begegnet, die zu Hause in grauer Tristesse und ohne jede funktionierende Infrastruktur leben müssen, gleichzeitig aber meinen, unser Gelsenkirchen niedermachen zu müssen, hat mein Kollege Frank Preuß gezeigt. Er hat ihnen eine wunderbare augenzwinkernde (und insofern leider ganz undeutsche) Antwort gegeben, die ich zu lesen hier dringend empfehle.

Nur beim BVB ist es schöner

Ein Sommermärchen wird es auch auf Schalke nicht geben. Aber, liebe England-Fans, es ist und bleibt das schönste Stadion der Welt – nach dem Signal-Iduna-Park in Dortmund, versteht sich. Und auch darüber kann man sich doch freuen, oder?!

Auf bald. Und bitte lächeln.

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