Recklinghausen. Innerhalb eines Tages mussten 40 Pflegebedürftige in Recklinghausen ihr Seniorenheim verlassen. Eine Betroffene spricht von menschenunwürdigem Verhalten
Gerda Döring dachte an den Krieg. Wenn der Luftalarm ausgelöst worden war, dann hatte Dörings Mutter eilig die wichtigsten Dinge zusammengesucht. „Nur das Nötigste. Schnell, schnell.“ Acht Jahrzehnte später erinnerte sich die 90 Jahre alte Recklinghäuserin an den drängenden Ton in der Stimme ihrer Mutter. Döring saß in der Seniorenresidenz am Festspielhaus Recklinghausen und musste ihre Taschen packen. Der Heimbetreiber war pleite, die Unterkunft wurde evakuiert - innerhalb weniger Stunden.
40 zum Teil bettlägerige Menschen verloren ihr zu Hause buchstäblich über Nacht und mussten in einer für den Kreis Recklinghausen beispiellosen Noträumung auf andere Pflegeheime verteilt werden. Gerda Döring blieben nur wenige Stunden, ihr Leben in Taschen zu verstauen. Nur das Nötigste. Schnell, schnell.
„Das war eine unmögliche Situation“, sagt die Seniorin heute. „Menschenunwürdig.“ So richtig habe sie noch gar nicht verarbeitet, was da Ende Februar in der Seniorenresidenz genau geschehen war. „Aber ich weiß, ohne meine Familie hätte ich das nicht geschafft. Wo ich wohl gelandet wäre?“ Döring sitzt in dem Zimmer ihres neuen Zuhauses, dem Pflegezentrum Auguste Victoria in Marl, und ist dankbar: „Ich habe viele Leute gesehen, die geweint haben. Das kam so plötzlich, nicht einmal alle Pflegerinnen wussten sofort Bescheid.“
Zwei Pleiten am Tag: 2023 brachte der Pflegebranche eine Pleitewelle
Bundesweit nehmen die Pleiten in der Pflegebranche zu. Anfangs waren vor allem große Betreiberfirmen betroffen, die sich nach einer gesetzlichen Änderung mit tarifähnlichen Löhnen und damit deutlich höheren Kosten konfrontiert sahen. Doch längst sind auch viele kleine, sogar gemeinnützige Dienste involviert: Inflation, Tarifsteigerungen und fehlendes Personal haben 2023 rein rechnerisch zwei Heime oder Pflegedienste pro Tag in die Insolvenz getrieben. In NRW wurden mindestens 130 Insolvenzen gezählt - eine Welle, die bis heute nicht abebbt.
Die Seniorenresidenz in Recklinghausen, die zu den teureren Adressen gehörte, ist gleich zweimal von ihr erfasst worden - und vielleicht dachten auch deshalb viele, dass es erneut gut gehen würde. 2023 hatte der damalige Betreiber, die Bremer Convivo Gruppe, als eine der größten privaten Pflegeunternehmen Insolvenz angemeldet. Das Recklinghäuser Heim wurde wie acht weitere Standorte - darunter einer in Velbert - von der Levantus AG gekauft.
Das Unternehmen war damals vollkommen neu am Markt, selbst Branchenkenner staunten über die Namen der handelnden Personen in der ersten Reihe. Die AG soll laut Branchenberichten von einem Projektentwickler, der zuvor auch mit Convivo zusammengearbeitet hat, eigens zum Zweck dieser Übernahme ins Leben gerufen worden sein. Geglückt ist das Vorhaben nicht: Im Dezember 2023 stellte auch die Levantus-Gruppe für ihre Gesellschaften Insolvenzanträge. Für die Heime wurden neue Käufer gesucht. Laut Insolvenzverwalter ist das für sieben Standorte mit 480 Betten gelungen. 600 Arbeitnehmer seien übernommen worden - Angaben zu Kündigungen machte der Insolvenzverwalter ebenso wenig wie zu den Hintergründen des Unternehmens. Am 1. März wurde das Insolvenzverfahren in Bielefeld eröffnet.
Der Anruf kam um 13.11 Uhr am Mittwoch - Donnerstag ab 9 Uhr wurde geräumt
Dass es eng werden würde für Recklinghausen, zeichnete sich erst eineinhalb Wochen vor der Räumung ab. Kreis und Insolvenzverwalter informierten Angehörige und Beschäftigte recht schonungslos vor Ort, dass die Suche nach einem Käufer auch schiefgehen könnte, und Marcus Döring reagierte. Der Sohn von Gerda Döring rief Heime an, ob sie im Fall der Fälle einen Platz freihätten. Dass er diese Alternative in Anspruch nehmen musste, schien zunächst weit weg - bis um 13.11 Uhr am Mittwoch, den 28. Februar, Dörings Handy klingelte.
Der 62-Jährige kennt die Uhrzeit so genau, weil er den Anruf zunächst für einen Betrugsversuch hielt. „Ich dachte an einen Phishing-Anruf“, sagt Döring. Doch tatsächlich war es eine Mitarbeiterin der Kreisverwaltung. Kein Käufer. Räumung des Heims. Morgen. Um neun Uhr. „Ich war fassungslos“, sagt Döring. „Ich habe am ganzen Leib gezittert“, sagt seine Mutter Gerda.
Kreis-Sozialamtschef bereitet sich aufs Schlimmste vor: Das Risiko fehlender Versorgung war zu groß
Was die beiden da noch nicht wussten: Im Hintergrund hatte die Kreisverwaltung sich auf das Schlimmste vorbereitet. Wenige Tage nach der Informationsveranstaltung hatte Sozialamtschef Patrick Hundt überall im Kreis nach Heimplätzen für jene gesucht, deren Angehörige sich nicht kümmern konnten - eigentlich eine Aufgabe des Betreibers, merkt er an. 40 der vormals 57 Bewohner lebten da noch in dem Heim. Und Hundt bereitete sich auf eine Räumung vor. „Wir hatten aber bis zuletzt gehofft, dass es nicht dazu kommt“, sagt der Chef des Fachbereichs Soziales im Kreis. „Jeder Umzug ist für die Bewohner belastend.“
Am Dienstagabend um 19 Uhr habe er die Gewissheit vom Insolvenzverwalters erhalten, dass Verkaufsversuche gescheitert waren, erinnert sich Hundt. Das Insolvenzausfallgeld, das die Beschäftigten bislang erhalten hatten, lief am übernächsten Tag aus. „Ab da war das Risiko zu groß, dass die Versorgung der Menschen in der Residenz nicht mehr gewährleistet ist“, sagt Hundt. Er zog den Notfallplan, brachte Katastrophenschutz, Notfallseelsorger, Heimaufsicht, das Deutsche Rote Kreuz und die Malteser zusammen, die am Donnerstagmorgen um 9 Uhr mit der Räumung des Heims beginnen sollten. Mehr als 60 Akteure waren involviert.
Gerda Döring packt bis 4 Uhr in der Nacht ihre Taschen um: „Fang nicht an zu weinen“
Und die Dörings? Bis spätabends organisierte der Sohn Freunde, die beim Umzug helfen wollten. Gerda Döring räumte bis vier Uhr in der Nacht ihre Taschen um, damit sie ja nichts vergaß. Am Morgen habe eine Pflegerin ihr dann zugerufen: „Frau Döring, Sie glauben nicht, was da draußen los ist!“ 20 Rote-Kreuz-Wagen habe sie gesehen, bestimmt 30 Sanitäter. „Die haben das ehrenamtlich gemacht, ist das nicht unglaublich toll?“, sagt die Seniorin. Ein Notfallseelsorger habe ihre Stärke gelobt, weil sie nicht weinte. „Ich habe mir gesagt, wenn du jetzt anfängst, hörst du nicht auf. Also fang nicht an.“
Die Tränen kamen dann doch. Die Schwiegertochter hatte ihr ein Bild aufs Handy geschickt. Das Auguste-Victoria-Heim habe für die Neuankömmlinge Blumen gekauft, welche Farbe ihr am besten gefalle? „Das hat mich so gerührt, zu wissen, dass ich dort willkommen geheißen werde.“
Heute wisse sie, dass in den letzten Jahren im Heim vieles schiefgelaufen sei. Von vielen Personalwechseln erzählen die Dörings, vom Stress und Zeitdruck der Pflegekräfte, von der gekauften Mikrowelle, um das gebrachte Essen zu erwärmen. Für die Arbeit des Kreises Recklinghausen haben die Dörings nur gute Worte. Gegen den ehemaligen Heimbetreiber prüfen sie rechtliche Schritte.
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