Essen. Aktive, sportliche Kinder sind glücklichere, gesündere Kinder. Doch immer mehr Heranwachsende bewegen sich zu wenig. Über Ursachen und Folgen.
60 Minuten, eine Stunde nur, sollten sich Kinder und Jugendliche pro Tag mindestens bewegen. Sagt die Weltgesundheitsbehörde WHO – und liegt damit weit unter den „Nationalen Empfehlungen“: Deutsche Experten wollen Kindergartenkinder 180 und Schulkinder 90 Minuten lang in Trab sehen. Sport ist wichtig für die körperliche, seelische und geistige Entwicklung. Doch schon vor der Pandemie erreichten laut einer Studie des Robert-Kochs-Instituts (RKI) nicht einmal ein Viertel der Mädchen und keine 30 Prozent der Jungen zwischen drei und 17 Jahren das von der WHO gesetzte Ziel. Experten im Revier warnen vor den Folgen.
Purzelbaum? Fehlanzeige! Radschlagen? Eine Unmöglichkeit! Auf einem Bein hüpfen? Wieso? „Und fünf Minuten am Stück laufen können viele Kinder auch nicht mehr“, sagt Sabine Braun, früher Spitzensportlerin, über 20 Jahre Leichtathletik-Nachwuchs-Trainerin beim TV Wattenscheid 01, am Olympiastützpunkt noch immer aktiv als Talentsucherin. Es sei „deutlich schwerer“ geworden, findet die 57-Jährige – zweifache Weltmeisterin im Siebenkampf – bei den regelmäßigen Sichtungsveranstaltungen begabte und motivierte junge Sportler zu finden. „Und es ist noch schwerer geworden, sie zu uns zu locken und bei uns zu halten.“
Sportlehrer: Situation „extrem eingebrochen“ während der Pandemie
Sie habe für diese Entwicklung „keine professionelle Erklärung“, beobachte sie aber schon lange. Als Vertretungslehrerin unterrichtete Braun – vor Corona – an einer Realschule; und war schon damals überrascht, wie schlecht es um die Sportlichkeit ihrer Sechstklässler bestellt war, wie wenig Spaß an Bewegung vorhanden war, wie gering der Wille, sich anzustrengen. „Die waren zwölf, dreizehn, kein einfaches Alter, sicher“, erinnert sich die frühere Top-Athletin. „Aber viele der Mädchen hatten einfach mehr mit ihren Haaren zu tun...“
Prof. Ann-Christin Roth, Präsidentin des Sportlehrerverbands NRW, will nicht von einem „Trend“ sprechen, obwohl es andere längst tun. „Das WHO-Bewegungsziel“, sagt Roth, „wird von Kindern und Jugendlichen seit 20 Jahren nicht erreicht.“ „Extrem eingebrochen“ sei die Situation während der Corona-Pandemie. Wenn auch nicht überall im gleichen Maße. Man beobachte an verschiedenen Schulformen sehr Unterschiedliches, erläutert Roth. „Besonders dramatisch ist die Lage da, wo Kinder in schwierigen sozialen Lagen leben. An Gymnasien nehmen Lehrer womöglich kaum Veränderungen wahr.“ Eine Längsschnittstudie der Uni Hamburg, die gerade auf einem Ärztekongress vorgestellt wurde, zeigt, wie krass die Auswirkungen tatsächlich waren: Im dritten Corona-Jahr trieben demnach 15 Prozent aller Kinder überhaupt keinen Sport, vor Corona waren es: vier.
„Selbstwirksame“ Erfolgserlebnisse und körperliche Fitness
Viele Mädchen und Jungen, die ihre beiden letzten Grundschuljahre vor allem als Home-Schooling erlebt hätten, kämen jetzt an die weiterführende Schule, ohne schwimmen zu können, erzählt Roth. „Und es ist nicht klar, wie wir das kompensieren können. Wenn die Eltern da nicht massiv hinterher sind, lernen sie das nie.“ Zumal den Schulen immer weniger „Schwimmzeiten“ zugebilligt würden und der Mangel an Sportlehrern eklatant sei. „Geschätzt zwei Drittel aller Grundschulkinder werden fachfremd unterrichtet.“ Tatsächlich reduzieren auch im Ruhrgebiet Kommunen gerade wieder Trainingszeiten für Vereine und Schulen, manche schließen ihre Bäder oder Hallen ganz. Von Flüchtlings- über Corona- bis Energie-Krise reichen die Begründungen.
Ob ein Kind auf einem Bein hüpfen könne oder die Rolle vorwärts beherrsche, ist für Roth „völlig unerheblich“. Wichtiger ist ihr die soziale Funktion von Sport; der Teamgeist; die Möglichkeit, „selbstwirksame“ Erfolgserlebnisse zu haben, die es woanders vielleicht nicht gebe. Das Miteinander, sich „austesten“ und „auspowern“ zu können, zu lernen mit Niederlagen umzugehen, das ist für Sabine Braun, was Sport unverzichtbar macht – neben dem Gewinn an körperlicher Fitness. „Erst mit 40, 50 merkt man, wenn man aufs Rad steigt, ob man es gewohnt ist, sich anzustrengen. Und wenn man es als Kind nicht gelernt hat, fällt der Einstieg dann sehr schwer.“
Eine der Folgen von Bewegungsmangel: Adipositas bei Kindern nimmt zu
Übergewicht, Haltungsschäden, Herz-Kreislauf-Probleme oder Infektanfälligkeit, heißt es in einem „Denkanstoß“ des Kinderschutzbundes NRW, seien typische Folgen von Bewegungsmangel in jungen Jahren. Zahlen der AOK Rheinland/Hamburg belegen: 2021 brachten 7,7 von 100 Kindern deutlich zu viele Kilos auf die Waage, 2019, vor der Pandemie also, waren nur 6,8 Prozent von Adipositas betroffen. Bei bereits übergewichtigen Kindern verschärften sich in vier Fünfteln aller Fälle die Gewichtsprobleme während der Pandemie, bei Kindern aus Familien mit niedrigem Einkommen sogar in über neun Zehnteln, zeigte eine Versicherten-Umfrage des Wissenschaftlichen Instituts der AOK erst im Frühjahr.
Doch auch geistige Leistungsfähigkeit und Kreativität leiden, wenn es an Bewegung mangelt, betont Dr. Christiane Richard-Elsner, Autorin des Kinderschutzbund-Artikels. Die Folgekosten für die Gesamtgesellschaft, von Krankheitsbehandlung bis entgangener Wirtschaftsleistung, gingen in die Milliarden.
Kinderschutzbund: Es fehlt an Freiflächen
Dass Kinder heute häufiger drinnen daddeln statt draußen zu toben, dass sie am Handy kleben statt auf Bäume zu klettern, dass sie zu viel sitzen, dass kaum noch eines weiß, wie man „Fischer, Fischer, wie tief ist das Wasser“ oder „Ochs am Berg“ spielt, hat nicht nur mit Trägheit zu tun (Sabine Braun: „Wenn Vater oder Mutter das Kind nicht zum Training fahren, kommt es auch nicht.“) oder dem Überangebot an medialer Ablenkung. Selbst Ganztagsunterricht oder eng getaktete Freizeit-Stundenpläne sind nicht „schuld“. Es gebe, sagen Richard-Elsner wie RKI-Studie, auch schlicht immer weniger Räume, in denen sich Kinder draußen gefahrlos bewegen könnten. Mindestens aus Sicht ihrer Eltern.
Schulen und Kitas sowie das häusliche Umfeld müssten daher „bewegter“, der Straßenverkehr sicherer und Städte „gesundheitsorientierter“ werden. Raumplaner, fordert Richard-Elsner etwa, müssten jede Freifläche im Ortsbild als potenzielle Spielfläche (und nicht als Parkplatz) betrachten. Was nicht heiße, dass man auf allen Spielplätze bauen müsse; es genüge, dort „Kinderspiel und laute Sportausübung von Jugendlichen zu akzeptieren“ – genau wie „kreative Unordnung“, etwa durch den Bau von Plastiktüten-Buden.
Was das Vorbild der Eltern bewirkt
Schließlich: Stehen natürlich auch die Großen in der Verantwortung. Genauso wenig, wie ein Grundschulkind für sich allein gesund kocht, während die Restfamilie Chips mampfend vor dem Fernseher sitzt, funktioniert Bewegung ohne Vorbild: Kinder sportlicher Eltern sind laut RKI-Studie deutlich aktiver als die von „Couch-Potatoes“. Mutter und Vater müssen mitziehen, sagt die Präventionsexpertin einer Krankenkasse, „sonst beißt man sich die Zähne aus“.
Ihre Eltern, erzählt Sabine Braun, seien sehr sportlich gewesen, hätten sie als junges Mädchen von Turnen über Judo bis Handball „alles ausprobieren lassen“, sie stets motiviert. Der deutsche Rekord der Siebenkämpferin aus Essen ist seit 1992 ungebrochen.