Ruhrgebiet. Die Hilfsinitiative “Wir im Revier“ half 850 Menschen aus dem Ruhrgebiet, die durch Corona in Not geraten sind. Und es geht weiter!
„Wir im Revier“ helfen Menschen in Not: Das war die Idee, zu Ostern geboren, als der erste Lockdown das Leben lahmlegte und der zweite noch kaum zu glauben war. Nun, zum Beginn des neuen Jahres, zieht die Hilfsinitiative Bilanz: Fast 850 Bürger und Familien, die durch die Corona-Krise finanziell nicht mehr über die Runden kommen, sind seit April 2020 unterstützt worden – mit bislang mehr als 725.000 Euro, großzügig bereitgestellt von Stiftungen und Unternehmen.
Hans-Walter Matzmoor hat etwas gewagt. Der frühere Kraftfahrer, 51, stieg vom Bock und in eine kleine Gaststätte ein, er nahm einen Kredit dafür auf: Schankraum und Kiosk gehören zu einer gut laufenden Bildungsstätte in Oer-Erkenschwick, er hatte keine Angst. „Ich weiß, dass es funktioniert.“ Es war Herbst 2019, Matzmoor wusste nichts von Corona, und es funktioniert nicht.
"Es geht ja nicht ums Geld", aber die Hilfe fühlt sich gut an
Kein Leben mehr im Salvador-Allende-Haus, auch nicht an der Theke: „Das Bier im Fass stirbt“, sagt Matzmoor, auch die Kartoffelchips, „alles Opfer, die sterben hier.“ Weshalb es ins Bild passt, dass der Mann auch das sagt: „Es ist nur noch Überlebenskampf.“ Keine Gäste mehr, kein Einkommen „Bei Hansi“, „ich laufe seit Monaten auf Null“. Dabei läuft die Miete weiter und der Kredit auch. Matzmoor könnte jetzt die restlichen Süßigkeiten essen, die er noch nicht verschenkt hat, die „Sauren Wellen“ sind kürzlich abgelaufen. Aber wäre das nicht eine „Betriebsentnahme“? Den Steuerberater, den er für die Hilfs-Anträge bräuchte, kann der Gelsenkirchener sich nicht leisten.
Was für eine Geschichte für Wir im Revier! „Es geht ja gar nicht ums Geld“, sagt Hans-Walter Matzmoor bescheiden, und doch: „Super-Sache!“ Dass das Ruhrgebiet ihm hilft, macht ihm Mut, lindert seine „Angst zu scheitern“, obwohl ja weiter „keiner weiß, wo’s hingeht“.
Wer sich gerade erholte, steht nun wieder vor dem Abgrund
Das wissen so viele nicht in diesen Zeiten der Pandemie, deren Ende niemand kennt. Die Sorge spricht aus den Briefen, die bei Wir im Revier Woche für Woche eingehen, über 2000 sind es wohl gewesen. Von Menschen ist da zu lesen, die ihren (Mini-)Job verloren haben und keinen neuen finden, deren Kurzarbeitergeld nicht für die Familie reicht. Von Soloselbstständigen, die keine Aufträge mehr haben, von Musikern ohne Auftritte, Künstlern ohne Publikum, Köchen ohne Gäste. Und wer sich vielleicht gerade erholte in den Sommermonaten, steht längst wieder vor dem Abgrund.
Viele Studenten können ihr Studium nicht mehr finanzieren
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Auch vielen Studenten hat Wir im Revier helfen können: Es gibt die Jobs nicht mehr, mit denen sie ihr Studium finanzierten. „Ich kann meinen Studienbeitrag nicht mehr bezahlen“, schreiben sie, „ich kann manchmal nicht essen“, „Ihre Hilfe ist lebenswichtig für mich.“ Mancher dachte tatsächlich darüber nach, alles hinzuschmeißen, oft kurz vor dem Abschluss. Kellnern, Putzen, Babysitten, alles fällt weg, auch seriöse Werkverträge wurden nicht verlängert. Mancher hat sein Konto überzogen, viele haben sich Geld geliehen, Beiträge gestundet. Sozialleistungen stehen Studierenden nicht zu, schon gar nicht solchen aus dem Ausland, die ihr Studium in Deutschland selbst finanzieren. „Man kann sagen“, so ein Student aus Essen, „ich überlebe.“
Mediengutscheine für Familien mit Kindern im Distanz-Unterricht
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Die Solidarität untereinander aber sei groß, sagen die Sozialarbeiterinnen von Caritas und Diakonie. Sie prüfen jedes einzelne Schicksal, sammeln Kündigungsschreiben, Kontoauszüge, vergebliche Bewerbungen. Wenn alles stimmig ist, wird eine Förderung veranlasst – dann gibt es bis zu 1000 Euro oder einen Mediengutschein: Weit mehr als 200 Familien konnte geholfen werden, deren Schulkinder in Lockdown oder Quarantäne vom Unterricht quasi ausgeschlossen sind. Wer Sozialleistungen bezieht, sagt Sozialarbeiterin Tanja Schymik von der Diakonie, könne für seine Kinder keine Computer kaufen. „Das gibt Hartz IV einfach nicht her.“ Ein Mediengutschein von Wir im Revier nehme Eltern „die Angst, dass ihre Kinder den Anschluss nicht schaffen“. Ein Laptop, ein Drucker dazu: „Ein Geschenk.“
"Die Menschen denken noch aneinander"
So war eine Mutter aus Essen voller Glück, als sie die gute Nachricht bekam: Sie hatte ihren schlecht bezahlten Job mit Sozialhilfe aufstocken müssen, wegen Corona aber die Kündigung bekommen. Ihre zwei Schulkinder stritten zuhause um einen altersschwachen PC ohne Internet. „Mega-gefreut“ hat sich das Trio über neue Technik: „Die Menschen denken doch noch aneinander.“ Die Hilfe von Wir im Revier, sagt Tanja Schymik, „ist viel mehr als Geld: Wir retten eine Situation, die schiefgegangen wäre“.
Das ist zu spüren und herauszulesen aus Bergen von Dankesbriefen: „Das kann ich gar nicht glauben.“ – „Mein Gott, vielen Dank dafür!“ – „Das ist eine große Hilfe und nimmt mir eine Last von den Schultern“, schreiben Menschen an die Caritas. „Sie können sich nicht vorstellen, was das für uns bedeutet.“ – „Das wird mich retten.“ – „Jetzt kann ich endlich schlafen“ an die Diakonie. Viele Mails sind voller Ausrufezeichen: „Unfassbar!! Vieeeelen Dank von Herzen!“ Andere voller Tränen: „Ich stehe gerade weinend auf der Straße und bin unendlich dankbar.“ – „Ich bin sehr gerührt mit Tränen in den Augen!!“ – „Mir laufen gerade die Tränen.“ Jemand schreibt: „Ich bin überwältigt. Einfach so?“
Kontoauszüge weit im Minus
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Ja, einfach so. Dabei ist es eigentlich gar nicht „einfach“: Die Sozialarbeiterinnen von Caritas und Diakonie überprüfen sehr genau, ob jemand wirklich durch Corona in Not geraten ist, ob er sich bemüht hat um einen neuen Job, wie viel Geld noch auf dem Konto ist. Nicht jeder mag das preisgeben, die Scham ist groß. Und „einfach“ ist es auch für die Expertinnen nicht: „Das sind Lebensumstände, die man sich gar nicht vorstellen kann“, sagt die Pädagogin Jana Mintrop von der Caritas. Ihre Kollegin Barbara Weß hat als Sozialarbeiterin schon viele „prekäre Lebenssituationen gesehen“, sie ahnt: „Für viele wäre es nur noch eine Stufe tiefer, auf der Straße zu landen.“
Sie sehen die Kontoauszüge, so viele im Minus, „die Menschen können keine Miete mehr zahlen“, keine Krankenversicherung... „Es trifft“, sagt die Diakonie-Kollegin Tanja Schymik, „die Leute, die es eh schon schwer hatten.“ Und „vor allem die Kinder bleiben auf der Strecke“, sagt Barbara Weß. Und wie geht es weiter? „Ich kann’s gebrauchen“, dankte jemand, der Hilfe bekam von Wir im Revier. „Es wird noch länger sehr dünn aussehen. Eventuell sehr lang.“
>>INFO: DIE AKTION GEHT WEITER!
Corona ist noch nicht vorbei, deshalb bleibt auch Wir im Revier. Besser noch: Stiftungen und Unternehmen aus dem Ruhrgebiet haben noch einmal großzügig in den Spendentopf eingezahlt, damit unsere Hilfsinitiative auch weiterhin Menschen unterstützen kann, die durch die Pandemie in Not geraten. Oder es inzwischen seit vielen Monaten sind: Für den zweiten Lockdown ist kein Ende abzusehen, niemand kann heute sagen, wann in der Gastronomie wieder Kellner, am Flughafen Gepäckträger, auf Messen Hostessen und in Stadien Bierverkäufer gebraucht werden. Wann Musiker wieder musizieren, wann Dozenten wieder dozieren können, wann die Kurzarbeit endlich aufhört.
Sie brauchen selbst Hilfe, weil das Geld knapp wird? Sie kennen jemanden, dem es so geht? Dann schlagen Sie sich oder andere vor! Das geht über die Internetseite Wir-im-Revier.de direkt, Sie finden dort aber auch ein Formular, das Sie per Post verschicken können. Caritas und Diakonie prüfen die Anträge und übernehmen die Auszahlung von bis zu 1000 Euro, in Ausnahmefällen auch mehr.
Wir im Revier wurde von der Funke Medien NRW gemeinsam mit der Business Metropole Ruhr ins Leben gerufen, unterstützt wird die Aktion von den Sozialverbänden Diakonie und Caritas. Geldgeber sind die RAG-Stiftung, Vivawest, die Brost-Stiftung, die Stiftung Mercator, Vonovia. In Kooperation mit der Firma Medion gibt es neben finanzieller Unterstützung Gutscheine für eine digitale Ausstattung für Familien, deren Kinder sonst nicht am Distanz-Unterricht teilnehmen können. Solche Gutscheine können auch an Empfänger vergeben werden, die bereits Sozialleistungen beziehen.