Essen. Das Corona-Virus hat an Schrecken verloren, doch die Inzidenzen steigen schon wieder. Viele Schutzmaßnahmen sind gekippt. Wie damit umgehen?
Zweieinhalb Jahre nach Beginn der Corona-Pandemie ist die Stimmungslage im Land geteilt: Die einen feiern nach dem Ende der meisten Schutzmaßnahmen ihre endlich wieder gewonnene Freiheit, andere fürchten, dass sich ein allzu sorgloser Sommer spätestens im Herbst rächen wird. Zwei persönlich gefärbte Sichtweise auf ein Virus mit gesellschaftlichem Spalt-Potenzial.
Corona ist nicht vorbei, die nächste Welle rollt bereits
Immer brav sein – das schafft keiner. Nicht der kleine Rabe aus dem Kinderbuch, nicht wir nach zweieinhalb Jahren Pandemie. Es ist Sommer und alles wieder möglich: Feiern mit Freunden, Fußball mit Zuschauern, Ferien im Ausland. Wir dürfen uns nach all den Lockdowns und Zeiten der Isolierung darüber freuen, sollten die neue Freiheit genießen. Doch so spießig das auch klingt: besser mit Vorsicht. Corona ist nicht vorbei, die nächste Welle rollt bereits.
18.417 Sars-CoV-2-Fälle registrierte das Landeszentrum für Gesundheit NRW am 23. Juni 2022. Und das sind nur die von einem Labor bestätigten. Vor einem Jahr, am 23. Juni 2021 waren es: 194. Die landesweite Sieben-Tage-Inzidenz – jener vergessene Wert, der vor gar nicht allzu langer Zeit noch das Maß aller Dinge war – lag damals bei 7,0; jetzt beträgt er: 738,3. Doch diese Zahlen interessieren nicht mehr. Vielleicht sogar zu Recht. Mit den immer neuen Varianten des Virus hat ihre Aussagekraft ja abgenommen; Omikron ist ansteckender als alle anderen zuvor, aber auch „harmloser“.
„Dann sollen die Alten und Kranken doch zuhause bleiben?“
Doch noch immer (mal ganz angesehen von Long- oder Post-Covid): sterben täglich Menschen an einer Covid-19-Erkrankung, die eben nicht harmlos verlief. Menschen mit Vorerkrankungen und Immunschwäche, Menschen über 60 vor allem. Natürlich kann man sich nun hinstellen und sagen: „Dann sollen die Alten und Kranken doch zuhause bleiben, wenn sie Angst vor einer Ansteckung haben. Wir sind jung und gesund, und wir waren lange genug solidarisch.“ Meine Vorstellung von Mitmenschlichkeit ist das nicht. Womöglich möchten ja auch der Frisch-Transplantierte oder die Chemo-Patientin mal wieder raus, ins Café oder im Park Freunde treffen – und sicher sein, dass sie sich dabei nicht das für sie womöglich tödliche Virus einfangen.
Maske zu tragen, ab und an einen Test zu machen, auch mal eine Party auszulassen: Was ist daran unzumutbar? Nicht alles, was erlaubt ist, muss gefallen. Längst haben aussagekräftige Studien von Weltgesundheitsbehörde bis Max-Planck-Institut Mainz nachgewiesen, dass, wer Maske trägt (am besten: FFP2-Maske!), die Gefahr einer Infektion deutlich reduziert – für sich selbst und andere. Denn ansteckend sind Infizierte vor allem, bevor sie es selbst wissen: Vor den ersten Symptomen ist die Viruslast am höchsten.
Masken sind nicht mehr überall Pflicht, aber sie reduzieren die Infektionsgefahr
Warum die Politik dennoch fast alle Schutzmaßnahmen kippte, so wenig vorausschauend agiert? Nicht wirklich zu begreifen. Dass Schulen, Restaurants und Sporthallen wieder geschlossen werden müssten: eine Horrorvorstellung für jedermann, jede Frau, jedes Kind. Tests sind nicht einmal mehr im Kontaktsport vorgeschrieben, Maske tragen ist Pflicht nur noch in Arztpraxen, Kliniken, Heimen, Gemeinschaftsunterkünften, Bus und Bahn. Aber wer hindert uns daran, uns vor dem Training freiwillig zu testen, die Maske freiwillig im Supermarkt zu tragen, oder auch im Stadium, im Flieger? Nicht angenehm, klar, sieht auch doof aus, und vielleicht kassiert man einen dummen Spruch („Sind Sie krank, Sie Arme?“). Aber wenn es Menschenleben retten kann?
Wer geimpft ist, schützt sich und andere im Übrigen noch viel besser – nicht unbedingt vor einer Infektion, aber ganz sicher vor einem schweren Verlauf der Erkrankung (und damit die Krankenhäuser vor erneuter Überlastung). Auch das ist längst hinlänglich und seriös belegt. Dass die Impfpflicht nur für Beschäftigte im Gesundheitswesen kam, bringt mehr Stress als Nutzen. Fürs Impfen gilt darum: Nur weil man nicht muss, darf man ja doch. (US)
Das Leben geht weiter – mit Corona
Dieses Mistviech. Glauben Sie mir, ich schreibe diesen Text nur widerwillig, denn ich habe vom Coronavirus die Nase voll. Buchstäblich, denn ich hab’s gerade (will Sie aber nicht mit meinem Verlauf behelligen. Wenn ich schreibe, kann’s so schlimm nicht sein). Ich bin auch einfach müde von diesem Thema. Natürlich muss die gesellschaftliche und politische Diskussion weiter um Corona kreisen, aber mein Privatleben muss das nicht mehr.
Das Leben geht weiter - mit Corona natürlich. So banal ist es nun mal. Wir sind der Hase, das Virus ist der Igel. Da hastet man ein bisschen stolz zur dritten Impfung, schon reckt hinter der nächsten Inzidenz-Kurve Omikron sein stacheliges Haupt. Pi wird nicht lange auf sich warten lassen. Aber zum Glück gibt es die Impfungen. Sie nehmen Covid seinen Schrecken, das Risiko eines schweren Verlaufs sinkt auf ein erträgliches Maß. Die Konsequenz kann nur sein, eine Lebensqualität anzustreben, wie wir sie vor Corona kannten.
Es wäre schade, wenn wir vereinzelten
Konzerte, Fußballspiele oder Chorsingen - wer eine Leidenschaft in Gemeinschaft hat, soll ihr doch bitte nachgehen. Es wäre zu schade, wenn wir in diesem schönen Leben weiter vereinzelten. Natürlich sind mehr Ansteckungen die Konsequenz. Aber man wird es sich so oder so einfangen. Einige meiner Freunde haben sehr vorsichtig gelebt und sind trotzdem erkrankt. Andere, mich eingeschlossen, haben immer soziale Kontakte gepflegt, wenn auch in kleinerem Rahmen – und zwei Jahre lang ist es gutgegangen. Covid gehört nun wie der Autounfall zu den allgemeinen Lebensrisiken.
Das zentrale Argument war stets die drohende Überlastung der Krankenhäuser. Es gilt weiterhin. Doch als gesunder, dreifach und im Herbst vermutlich vierfach Geimpfter ist es sehr unwahrscheinlich, auf der Intensivstation zu landen. Und wer zu einer Risikogruppe gehört, kann selbst am besten abwägen, wie er sich verhält (und was er mit seinem Umfeld vereinbart). Wir haben doch nun alle mehr als zwei Jahre Erfahrung mit dem Mist. Als Argument gegen eine Impfung jedenfalls taugen die allermeisten Vorerkrankungen bekanntlich nicht.
Omikron waltet milde
Die Belastung des Gesundheitspersonals und der Schüler, des Finanzetats und der Wirtschaft geht wesentlich von den Ungeimpften aus. Darum wäre eine Impfpflicht sinnvoll gewesen. (Vor allem die FDP hat mit ihrer Ablehnung ausgerechnet ihrer Kernklientel, den Hoteliers, den Selbstständigen, den Ärzten, einen Bärendienst erwiesen.) Mir graut vor dem nächsten, dann vermeidbaren Lockdown. Vielleicht hat die Sommerwelle auch ihr Gutes. Omikron waltet milde, so stärken wir mit geringem Risiko unsere Immunität vor dem Herbst und vor der nächsten Variante. Zumindest ist mit dieser Interpretation der Hauruck-Kurswechsel in der Gesundheitspolitik leichter nachzuvollziehen. Natürlich kann man sich mehrfach anstecken, aber die Wahrscheinlichkeit und die Schwere einer Erkrankung sinkt nach jedem Mal.
Aber natürlich wäre ich lieber nicht krank derzeit. Angesteckt habe ich mich bei meiner Frau. Die war zwar auf einem Konzert, allerdings zwei Tage vor dem Ausbruch ihrer Erkrankung, weswegen es wahrscheinlicher ist, dass sie sich die Seuche zuvor in einer Alltagssituation geholt hat. Man wird es nie wissen. Und das ist vielleicht auch gut so. Es kann einen auch krank machen, sich für alles verantwortlich zu fühlen. (tom)