Ruhrgebiet. Nach zwei Jahren Zwangspause hat das Ruhrgebiet wieder die Extraschicht gefeiert. Sie ist ganz die Alte, mit einem Ausfallschritt in die Moderne.
Sie fuhren nicht nur eine, sie fuhren viele Extraschichten hier. Der Torbogen zum Gelände von Schlägel&Eisen 3/4/7 in Herten ist nach einem Lkw-Unfall Monate gesperrt gewesen und bearbeitet worden; ganz spät, seit Donnerstag erst, ist der Zugang wieder frei. „Endlich“ sagen die, die hier arbeiten. „Endlich!“ die, die am Samstag hier feiern. Das große Zusammensein nach der freudlosen Zeit. Die Sommernacht. Das Ruhrgebiet. Perfekt.
Denn deutlich vor dem offiziellen Beginn der Extraschicht sind schon 150, vielleicht auch 200 Leute hergekommen und drücken den Bergbau an ihr Herz. Trinken einen Cocktail, tanzen jetzt schon zur Live-Musik. Gucken rein beim Geschichtskreis, trauen sich auf den 65-Meter-Förderturm, naja, viele auch nicht. Begutachten Ruhrgebietssouvenirs. Fragen Dan und Christian, die hier herumlaufen in Bergmannskluft, ob sie Fotos machen dürfen von und mit ihnen.
„Zwei Jahre musste sie ausfallen, da hat etwas gefehlt“
Dan hat zwölf Jahre auf AV und Prosper unter Tage gearbeitet, er ist auf eigene Rechnung hier und gehört ausdrücklich nicht zu den Bergmannsdarstellern, die auch herumlaufen: „Wir haben unsere Tickets selbst gekauft, wir bezahlen unser Bier selbst.“ Das sei „Liebe zum Bergbau“. Dann erklärt und macht und tut er weiter für Gäste mit Fragen. Das Motto auf Schlägel&Eisen, „Feuer, Farbe, Licht“, das gilt ja eigentlich für die ganze Extraschicht.
Am Samstag bis in den Sonntag hinein ist sie wieder über die Bühnen gegangen, zum 20. Mal, ist über 43 Spielstätten gegangen in 23 Städten. „Zwei Jahre musste sie ausfallen, da hat etwas gefehlt“, sagt Axel Biermann, Geschäftsführer des Veranstalters „Ruhr Tourismus GmbH (RTG)“. Und freut sich in der weiteren Nacht: „Das Prinzip Extraschicht begeistert die Menschen nach wie vor.“ Die Macht der Industriekultur. Ganz die alte.
Digitale Kunst greift die Kruppschen Teufel wieder auf
Ganz die alte? Die Stars sind immer noch dieselben, die Zechen und Werke, Gasometer und Maschinenhallen; und wo in der Dunkelheit dann die bunten Lichter angehen und die Feuerwerke brennen, da wird die Nacht wieder magisch. Auch ohne das: Die gewaltigen Katakomben einer Henrichshütte in Hattingen sprechen für sich, beeindrucken die Besucher auch so, da muss man gar nichts zusätzlich rein installieren. Und doch.
Ganz was Neues. Oben ist nämlich die zukünftige Gegenwart angekommen in der Gestalt erweiterter Realität des Digitalkünstlers Tim Berresheim. Sein Team hat QR-Codes auf Böden und Bierdeckeln installiert, und wer sie scannt, erlebt die Kruppschen Teufel in einer 4.0-Version: Aus der dämonischen Szene des Ölgemäldes von 1911 sind sie offenbar entkommen und bewegen sich nun durch die Gebläsehalle - aber gottlob nur auf Bildschirmen.
Chöre singen, Zauberer verschwinden, Künstlerinnen lesen
Das sei „eine Schnittstelle zwischen digitaler Kunst und Hüttengeschichte“, sagt Berresheims Studioleiter Tim Tilgner: „Jeder Besucher kann irgendwo andocken.“ Besucher entdecken digitale Kunst in dieser Nacht auch auf Zeche Hannover in Bochum, Zollern in Dortmund und Lohberg in Dinslaken. Sie waren, so die RTG am Sonntag, „ein großer Besuchermagnet“.
Am Abend ist die Stimmung chillig. Bier, Bratwurst, irgendwoher plätschert immer Musik - wenn nicht gerade eine von hunderten Aktionen ansteht. Chöre singen, Zauberer verschwinden, Künstlerinnen lesen; Hochöfen leuchten, Menschen gucken. Und draußen kurven die Pendelbusse. Akrobatinnen verbiegen sich, Bergrentner führen: Gerade erzählt einer seiner Besuchergruppe von den ganz alten Zeiten, als die Menschen in Hattingen-Welper noch Angst haben mussten vor den Räuberbanden im Ruhrtal.
Apropos chillen: Im Bochumer Westpark sitzt die Jugend jetzt auf den Wiesen und prostet sich zu. Andere gehen weiter in die Jahrhunderthalle, setzen sich in die Nestschaukeln, die von der Decke hängen, und schwingen entspannt hin und her. Der hintere Teil der Halle ist Bierhalle mit Bluesbühne, auf der der Auftritt der Essener Autorin Sandra da Vina beginnt. Sie sagt: „Es wird wunderschön. Ich verspreche das.“ Und auch das gilt ja eigentlich für die ganze Extraschicht.