Schwelm. Unsere beliebtesten Plus-Texte, heute: Wie das Video „Pflegestufe Rot“ von Schwelm aus viral ging und Tausende berührte.
Dieser Text ist zum ersten Mal am 19. November erschienen.
Die Uhr tickt unaufhörlich im Hintergrund: Die Pflegerin hastet von Szene zu Szene, wirft zwischendurch eine Tablette ein. Überall begleitet sie der Applaus der Menschen. Selbst im Supermarkt, wo sie an der Kasse verzweifelt ihr Portemonnaie durchsucht. Das ist ebenso leer wie ihr Blick. „Wenn du mehr für die Gesundheit anderer tust als für deine eigene“, mahnt Klaus-Dieter Klebsch, die deutsche Stimme von Hollywoodstar Alec Baldwin , aus dem Off. Am Ende lässt die Pflegerin einen blutenden Patienten zurück, spendet sich selbst zynisch Applaus. Und ist wie das Video am Ende.
Mehr als zwei Millionen Mal ist der Clip seit Sonntag über Plattformen wie Youtube oder Instagram abgerufen worden. „Pflegestufe Rot“ haben die Macher ihre Kampagne samt zugehöriger Internetseite genannt. In Anlehnung an die „Alarmstufe Rot“ , mit der die Veranstaltungsbranche auf die von der Coronakrise ausgelösten Nöte aufmerksam macht, bricht sich nun auch in der Pflege die Wut über die Missstände virtuell Bahn.
Macher hinter „Pflegestufe Rot“ wollen Verbesserungen anstoßen
„Wir wollen der Pflege eine Stimme geben. Mit einem so großen Feedback haben wir nicht gerechnet“, sagt Matthias Menne , der die Kampagne mit Julian Stranzky ins Leben gerufen hat. Die beiden Pflegewissenschaftler arbeiten für den privaten Pflege-Personaldienstleister Rehcura aus Schwelm, haben selbst viele Jahre „am Bett gestanden“ – der eine als Heilerziehungspfleger, der andere als Altenpfleger. Ihr Ziel: Die Nöte des Pflegepersonals ungefiltert öffentlich zu machen und am Ende im politischen Berlin – etwa mit einer Petition – eine Verbesserung der Bedingungen anzustoßen.
Wie groß Not und Handlungsbedarf sind, zeigt die riesige Resonanz: Rund 1000 Kommentare – größtenteils von Menschen aus Pflegeberufen – sind als Reaktion auf die Kampagne innerhalb von drei Tagen eingegangen. Die Stimmen sollen nun nach und nach ungefiltert auf der Internetseite einfließen.
Meinungen von Menschen aus Pflegeberufen werden ungefiltert veröffentlicht
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„Weniger gezwungenes profitorientiertes Denken: Höhere Vergütung, mehr Arbeitsschutz, mehr Menschlichkeit“, wünscht sich der Bundesfreiwilligendienstleistende Malte etwa. Und Sozialarbeiter Carlos schreibt: „Die Pflege gehört in den Blickpunkt der Gesellschaft! Wie kann es sein, dass man im produzierenden Gewerbe oft mehr als doppelt so viel Gehalt bekommt? Die Arbeit mit und am Menschen zählt mehr denn je!“
Wer sich durch die Wut, Wünsche und Wirklichkeit in den Statements scrollt, der bekommt einen unverstellten Blick auf die gravierenden Missstände . Die sind nach Ansicht von Julian Stranzky auch gesellschaftlicher Natur: „Wer in einem Pflegeberuf arbeitet, wird oft mitleidig angesehen. ,Das tust du wir wirklich an?’, ist eine Frage, die auch ich sehr oft zu hören bekommen habe.“ Würden etwa Ärzte und Ärztinnen eher glorifiziert, kämpfe die Pflege nach wie vor mit einem schlechten Image : Geringer Verdienst, Schichtarbeit, kaum Zeit für die Menschen, die gepflegt werden sollen.
„Deutschland hat Pflegeberufe viel zu spät professionalisiert“
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Zur Wahrheit gehöre dabei auch, dass Deutschland die Professionalisierung der Pflege viel zu spät voran getrieben habe. „Speziell die Altenpflege galt lange als Hausfrauen-Beruf, der sich ohne nennenswerte Qualifizierung ausüben lässt. Erst Ende der 1980er-Jahren wurde die Ausbildung professioneller und erst Ende der 1990er-Jahre wurde die Pflege akademisiert“, weiß Matthias Menne. Schon damals sei klar gewesen, dass sich durch die geburtenstarken Jahrgänge spätestens in den 2020er-Jahren die Zahl der Pflegebedürftigen um ein Vielfaches erhöhen würde.
Am Mittwoch veröffentlichte Zahlen des Landesamts für Statistik, IT.NRW, geben ihm Recht. Demnach stieg die Zahl der Pflegebedürftigen in NRW zum Jahresende 2019 auf knapp 965.000 Menschen – gut ein Viertel mehr als zwei Jahre zuvor. Das liegt zwar auch daran, dass erstmals der erste von fünf Pflegegraden in der Einstufung mitberücksichtigt wurde. Aber auch ohne diesen Effekt bleibt eine deutliche Zunahme um 5,4 Prozent. Die meisten Pflegebedürftigen – knapp 796.000 – werden laut IT.NRW zu Hause versorgt. Immer mehr Pflege, die von wenigen und ohnehin schon beanspruchten Schultern getragen werden kann.
„Das System krankt so sehr, dass es nicht durch Kleinigkeiten verändert werden kann“
„Das System krankt so sehr, dass es nicht durch Kleinigkeiten verändert werden kann. Seit 1995 die Pflegeversicherung verabschiedet wurde, ist es permanent bergab gegangen“, sagt Matthias Menne.
Der Aufschrei sei bislang häufig ausgeblieben, weil nur die wenigsten Menschen in Pflegeberufen organisiert seien, etwa in Berufsverbänden oder Gewerkschaften. „Pflege muss lauter und sichtbarer werden“, nennt Julian Stranzky eine der Grundideen hinter „Pflegestufe Rot“. Applaus allein, so die eindeutige Botschaft, reicht nicht aus.